22. Juli 2016, 17:54 Uhr – wohl jeder Münchner weiß fast minutiös, was er zu diesem Zeitpunkt und in den Stunden danach getan hat. Oder nicht mehr tun konnte, weil er irgendwo festsaß. Die Gefühle und Gedanken sind auch ein Jahr später präsent. Ein Jahr schon!
Ich war heute im OEZ und habe gearbeitet, weil ich für einen Kollegen eingesprungen bin. So wie vor einem Jahr eine Kollegin für mich eingesprungen ist, weil ich zur Beerdigung meines Onkels wollte. Ich war auf dem Heimweg und saß in der Bahn, freute mich auf einen ruhigen Abend bei einem Glas Wein, an dem ich den ausführlichen Text, in dem mein Onkel seine Gedanken zum Fortgang der Welt aufgeschrieben hatte, lesen und so seiner gedenken wollte. Doch die Eilmeldung, die auf meinem IPhone auftauchte, verdrängte jeden Gedanken an meinen Onkel. Jetzt war ich in panischer Sorge um meine Kollegin, die ersten Freunde fragten schon, ob es mir gut geht (nebenbei bemerkt, war die erste, die sich meldete, meine Freundin in Kanada). Endlich hatte ich meine Kollegin erreicht, es ging ihr den Umständen entsprechend gut, sie saß aber mit allen anderen Mitarbeitern des Karstadt fest, streng bewacht. Meine Gedanken und Gefühle waren ein einziges Chaos. Kurzentschlossen stieg ich eine Station früher aus, weil es da schon hieß, dass der ÖPNV eingestellt wird. Ich lief so schnell es ging von der Station nach Hause und war noch nie in meinem Leben so froh, die Wohnungstür hinter mir zuzumachen.
Ein Jahr später bin ich mit demselben mulmigen Gefühl ins OEZ geradelt wie in den Tagen nach dem 22. Juli 2016. Als ich die Menschen sah, die bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt waren, kamen mir die Tränen. Auch wenn das egoistisch klingt – ich war dankbar, nur mittelbar betroffen zu sein. Wenn für mich der Tag schon nicht ganz einfach ist, wie muss es erst Menschen gehen, die einen Sohn, eine Tochter, die Ehefrau, die Mutter verloren haben oder alles mitansehen mussten? Aber wie schon vor einem Jahr hatte ich heute wieder das Gefühl, dass die Menschen besonders aufmerksam miteinander umgehen, meine Kunden waren ausgesprochen freundlich. Trotzdem war dieser Tag surreal – es war ein normaler Samstag im OEZ, mit dem üblichen Trubel und doch war es kein normaler Tag, weil es vor einem Jahr auch keiner war.
Vor dem Haupteingang steht jetzt ein Kunstwerk in Gedenken an die Opfer. Es ist ein mannshoher Ring, der mit neun „Diamanten“ besetzt ist, die die Portraits der Getöteten enthalten. Dieser Ring umschließt einen Gingkobaum, ein Symbol des Lebens. Nach langem Überlegen habe ich mich entschlossen hinzugehen. Es ist ein würdiger Gedenkort, der vielen Trauernden wichtig ist. (Über die, denen es das wichtigste ist, auf dem Selfie vor dem Ring gut auszusehen, rege ich mich jetzt nicht mehr auf, das ist es nicht wert.) Bemerkenswert finde ich die Inschrift auf dem Ring: „In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs des 22. Juli 2016.“ Ich weiß nicht, ob es Absicht ist, aber nicht nur die Toten sind Opfer, mindestens genauso deren Angehörige und Freunde und alle die, die alles mitansehen mussten, geholfen haben und bis heute die Bilder und Geräusche nicht loswerden. Und, man erlaube mir diese unpopuläre Meinung, auch der Täter war ein Opfer – nicht des Amoklaufs, sondern dessen, was ihn dazu getrieben hat. Nach allem, was man weiß, hatte er von klein auf massive psychische Probleme, die durch das Mobbing an der Schule zum Hass wurden, der bei ihm jegliche Gefühle und Instinkte ausschaltete. Wie sonst kann jemand eine solche Tat über ein Jahr vorbereiten, ohne jemals Skrupel zu bekommen? Er war offensichtlich in seinem Hass so gefangen, dass alles, was sonst wichtig ist, nicht mehr zählt und ihn von seiner Tat abhält. Ich will ihn damit nicht entschuldigen und seine Tat relativieren, aber wer sich auch nur ein wenig mit Depressionen oder ähnlichen psychischen Erkrankungen beschäftigt – oder sich beschäftigen musste, weil ein Angehöriger oder Freund betroffen war/ist – weiß, dass die üblichen Mechanismen bei einem solchen Menschen nicht mehr ansprechen.
Meine Gedanken waren heute auch bei den Eltern des Täters. Sie haben auch ein Kind verloren und müssen zusätzlich mit der Last leben, dass ihr Kind neun Menschen und sich selbst getötet hat. Sie werden wohl nie eine Antwort darauf bekommen, ob sie die Tat hätten verhindern können, ob sie mehr auf Anzeichen hätten achten sollen usw. Die eigene Schuld wird ihnen vermutlich ein Leben lang bleiben. Als ob das nicht reichen würde, wurden sie wegen massiver Bedrohungen in das Opferschutzprogramm genommen und leben jetzt irgendwo, anonym. Auch wenn es zu keiner Verurteilung des Täters mehr kommen kann, büßen seine Eltern mehr als das Strafrecht hergeben würde.
Dieser Text ist wohl Teil meiner eigenen Verarbeitung des Geschehenen. Jeder hat seine eigene Weise so etwas zu verarbeiten, mir war es wichtig, mich genau mit den Hintergründen zu beschäftigen, es irgendwie zu verstehen. Geholfen haben mir einige gute Gespräche, in denen ich einfach erzählen durfte, was mich bewegt, welche Informationen ich hatte, wie ich damit umgehe. Ich bin allen, die mir zugehört haben sehr dankbar. Auf die Frage „Warum?“ wird es wohl nie eine abschließende Antwort geben, aber ich hoffe, dass das bleibt, was wir am 22. Juli 2016 auch erlebt haben – eine große Hilfsbereitschaft und ein Zusammenhalt, die wir Menschen auch im alltäglichen Leben, ohne Großschadensereignis, viel öfter praktizieren sollten. Und den Trauernden kann ich nur sagen: Schämt euch nicht eurer Tränen! Weint, wenn die Gefühle zuviel werden, so wie die jungen Männer heute an der Gedenkstätte. Es wird eurer Seele guttun.