Ist unsere Demokratie in Gefahr?

Am Wochenende war ich wie so oft die letzten zwölf Monate auf eine Demo für die Ukraine. Gegenüber den Demos im März/April letzten Jahres sind die Teilnehmerzahlen an diesen Demos inzwischen sehr überschaubar. Die meisten Teilnehmer sind Ukrainer. Wegen der Sicherheitskonferenz und einiger teilnehmender Prominenz (Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter) waren es diesmal immerhin gut 1000 Menschen, die für die Ukraine und mit den Ukrainern auf dem Odeonsplatz demonstrierten. Zu den Rednern gehörten neben den Genannten auch der ukrainische Botschafter in Deutschland Oleksii Makeiev und der Politologe Carlo Masala. Der übrigens zum ersten Mal auf einer Demo gesprochen hat und angeblich nicht wusste, was er eigentlich sagen soll, aber dann doch viel – sehr Gutes – gesagt hat. 😉 Die Ukrainer haben sich immer wieder für die Hilfe aus Deutschland bedankt und zu weiterer Unterstützung aufgerufen.

Dieser Unterstützung der anwesenden Politiker und Bürger können sich die Ukrainer sicher sein. Auf dem Weg zum Odeonsplatz bin ich aber am Königsplatz vorbeigeradelt und mir wurde schlecht, als ich die russischen Fahnen sah. Hier hatte sich ein Bündnis aus AfD, „Querdenkern“, Verschwörungsgläubigen, Reichsbürgern, Rechtsextremisten , z. B. die Freien Sachsen, und offensichtlich Alt-68er Friedensbewegten zusammengefunden. Zu meinem Entsetzen war der Königsplatz voll, laut Polizei waren es 10 000 Menschen. Die durften dann auch noch durch Schwabing marschieren. Eine andere Demo der DKP und ähnlicher Gruppierungen – u. a. auch unter dem Slogan „Frieden“ – startete am Stachus und führte, man glaubt es kaum, an unserer Demo vorbei. Fast ein halbe Stunde dauerte das, in der unsere Demo massiv gestört wurde.

Dieser Nachmittag lässt mich frustriert und entsetzt zurück. Bislang war ich der Meinung, dass diese – wie soll ich sie nennen – „Pazifisten“, die sie nicht sind, nur eine laute Minderheit ist, aber das gestrige Zahlenverhältnis war für mich erschütternd. Ist dieses seltsame Bündnis aus Rechten, Linken und 68er-Pazifisten wirklich nur laut und spiegelt es nicht die Mehrheit der Bevölkerung wider? Sind diejenigen, die für die Ukraine und auch Waffenlieferungen sind, zu träge oder zu sicher, dass sich das schon irgendwie lösen wird? Ich für meinen Teil kann hier nicht mehr tatenlos zusehen, was ich gestern erlebt habe, macht mir große Sorgen: Sorgen um unsere Gesellschaft, die schon seit der Pandemie – wohl auch schon vorher, aber da wurde es offensichtlich – tief gespalten ist. Sorgen um unsere Demokratie, weil immer mehr Menschen das Vertrauen in den Staat verloren haben oder ihn gar ganz ablehnen. Sorgen machen mir auch die verhärteten Fronten und die Menschen, die nicht mehr für rationale Argumente zugänglich sind, die hinter allem eine Verschwörung sehen und sich mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufrieden geben. Die in einem „starken Mann“, der endlich mal durchgreift und aufräumt, die Lösung ihrer und der Probleme Deutschlands sehen.

Ich kann nur an alle appellieren: Überlassen wir diesen Menschen nicht die Meinungshoheit, zeigt eure Meinung offen und unterstützt die Ukraine so gut es geht. Bis vor einem Jahr war ich in meinem Leben einmal auf einer Demo, das war bisher aus verschiedenen Gründen nicht mein Ding. Aber inzwischen kann ich nicht mehr nur dabei vom Sofa aus zusehen, wie zerstörerische Kräfte unsere Demokratie aushebeln wollen. Ich kann auch nicht tatenlos dabei zusehen, dass Russland die Ukraine vernichten will. Es will auch nicht in meinen Kopf, wie man unter dem Vorwand des Friedens dafür plädieren kann, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern. Wie kann man angesichts der Bilder und Berichte von Vergewaltigung, Ermordung, Deportation und Folter auf diese Idee kommen? „Frieden schaffen ohne Waffen“ habe ich gestern mehrfach im Vorbeifahren gelesen – wie soll das denn in der Ukraine funktionieren? Idealismus und Prinzipien sind ja gut und richtig, aber wenn sie an der Realität scheitern, sind sie wenig wert. Und die Realität ist, dass für die russische Führung und ihre Propaganda die Ukrainer „Untermenschen“ sind, die ausgelöscht oder umerzogen werden müssen. Die Realität ist, dass Russland diesen Krieg nicht eher beenden wird, bis es militärisch geschlagen ist. Die Realität ist auch, dass der Machthunger Russlands über die Ukraine hinausreicht, Moldau ist ja schon besetzt und wird konkret bedroht.

Ich war und bin immer noch Pazifist und würde immer dafür plädieren, zuerst einen Weg über Gespräche zur Konfliktbewältigung zu gehen. Nur im Fall des Krieges Russlands gegen die Ukraine gibt es diesen Weg nicht mehr – lange genug wurde er versucht. Putin will gar nicht verhandeln und wenn, dann nur unter der Bedingung, dass die „territorialen Realitäten“, wie sie es nennen, nicht verhandelbar sind, die Ukraine soll aber ohne Bedingungen in solche Verhandlungen gehen. Das sind doch keine Verhandlungen, sondern die Aufforderung zur Kapitulation der Ukraine. Wenn eine solche Übereinkunft zustande käme, wäre das kein Frieden, sondern eine Friedhofsruhe – im wahrsten Sinne des Wortes. Dann würden weitere Städte dem Schicksal des zerstörten Mariupols folgen.

Was mich auch immer wieder fassungslos macht, ist wie mit einer Selbstverständlichkeit beim Thema Verhandlungen die Ukraine bestenfalls als Objekt betrachtet wird über das verhandelt wird. Es scheint bei manchen Leuten noch nicht angekommen zu sein, dass die Ukraine seit 1991 ein souveräner Staat ist, der souveräne Entscheidungen trifft. Auf der Demo wurde ich von einem Fernsehteam interviewt, wie ich denn Waffenlieferungen an die Ukraine sehe usw. (Mein erstes Fernsehinterview!). Da ich auf der Pro-Ukraine-Demo war, waren die Antworten ziemlich offensichtlich. Ich habe der Interviewerin gesagt, dass sie auch Ukrainer befragen soll, deren Stimme und Stimmung sollte viel mehr zu Wort kommen, weil sie direkt betroffen sind.

Ich habe mich lange aus politischen Diskussionen herausgehalten und es fällt mir immer noch nicht leicht, aber gestern hat mich endgültig wachgerüttelt und ich hoffe, viele schließen sich an. Auch wenn ich keine Idee habe, wie man diese „abgedrifteten“ Menschen wieder ins Boot der Demokratie und des vernünftigen Diskurses holen kann, will ich zumindest in meinem bescheidenen Rahmen durch die Teilnahme an Demos meine Position deutlich machen. Zudem bin ich dabei, meine erschreckenden Wissenslücken – genau genommen ist es ein einziges großes Loch – zu Osteuropa im Allgemeinen und zur Ukraine im Speziellen zu schließen. Das würde, nebenbei bemerkt, manchen Briefe- und Manifestschreibern und Demonstranten, die auf dem Königsplatz waren, auch nicht schaden. Dann würde das verklärte Russlandbild nämlich sehr schnell bröckeln und man würde merken, dass die Ukraine eine lange Geschichte hat und eben sehr viel mehr ist als nur „Kleinrussland“.

Erlaubt mir am Ende dieses zugegeben emotionalen Beitrags noch ein paar Empfehlungen, wie ihr die Ukraine unterstützen könnt und einige Empfehlungen, wenn ihr mehr über die Geschichte der Ukraine wissen wollt (es lohnt sich!).

Geschichte der Ukraine:

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder, ISBN 978-3-406-71410-8 (kurz und knackig)

Serhii Plokhy, Das Tor Europas, ISBN 978-3455015263 (ausführlich, aktuellstes Werk)

Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3150143261

Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3406735585

13-teilige Vorlesung von Timothy Snyder (Professor in Yale, renommierter Osteuropa-Historiker): The Making of modern Ukraine

Unterstützung für die Ukraine (eine kleine Auswahl):

Caritas: https://www.caritas-international.de/spenden/online/formular?id=A0230M005

Ukrainisch-katholische Gemeinde/Exarchie: http://www.ukr-kirche.de/seite/570811/hilfe-f%C3%BCr-die-kriegsopfer-in-der-ukraine.html

Verein München hilft Ukraine: https://www.muenchen-hilft-ukraine.de/spenden

SOS-Kinderdörfer: https://www.sos-kinderdorf.de/portal/spenden/wo-wir-helfen/europa/ukraine

Über DHL kann man kostenlos Pakete in die Ukraine schicken, die ukrainische Post verteilt den Inhalt dahin, wo es gebraucht wird: https://www.dhl.de/de/privatkunden/information/hilfe-ukraine.html

Initiative von Timothy Snyder: https://u24.gov.ua/shahedhunter (oder auch andere Projekte, auch humanitäre, auf der Seite des ukrainischen Präsidenten: https://u24.gov.ua/)

Auf Empfehlung von Aleksander Pavkovic: Blindenschule in Charkiw


Wende dein Gesicht der Sonne zu …

…, dann fallen die Schatten hinter dich. Dieses afrikanische Sprichwort hat der Autor Obiora Ike für sein Buch gewählt. Er ist katholischer Priester aus Nigeria, der in Deutschland studiert hat. Heute ist er Generalvikar einer Diözese in Nigeria, Hochschulprofessor und Kämpfer für die Menschenrechte.
Dieses Buch habe ich fast in einem Rutsch durchgelesen und ich bin sicher, ich werde es immer wieder zur Hand nehmen. Es ist die Sicht eines Afrikaners auf Deutschland und der Deutschland liebt wie seine Heimat.
Dieses Buch ist ein Plädoyer – ein Plädoyer an uns Deutsche, uns wieder auf unsere Tugenden und unsere Schätze zu besinnen und gleichzeitig ein bisschen afrikanischer zu werden.
Ein Plädoyer gegen den Relativismus, gegen den Egal-ismus und eines dafür, Position zu beziehen, in weltlichen und christlichen Fragen.
Es ist ein Plädoyer für Gott und den Glauben an ihn. Und dafür, ihn wieder in unser Leben zu lassen.
Es ist ein Plädoyer gegen die „German Angst“(*) und für mehr Vertrauen – zu Gott und den Menschen.
Das Buch ist ein Plädoyer gegen die Einsamkeit und eines für mehr Beziehung.
Kurz: Dieses Buch ist eine Predigt auf 269 Seiten, nicht nur für Christen, nicht nur für Deutsche, sondern für alle Menschen, denen es nicht egal ist, was in der Welt, in ihrem Land, in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Familie geschieht.

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(*) Diesen Ausdruck gibt es im Englischen tatsächlich und beschreibt die eher abstrakte Angst, die sich nicht auf eine bestimmte Sache bezieht, sondern mehr eine allgemeine Lebensangst. Sollte uns das nicht zu denken geben?

Geschichte einer deutschen Familie

So lautet der Untertitel des Buches „Meines Vaters Land“ von Wibke Bruhns. Ich habe es gerade zu Ende gelesen und stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses bewegenden, interessanten und spannenden Buches.

Der Vater von Wibke Bruhns, Hans Georg Klamroth, wurde als Mitwisser des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 hingerichtet. Seine jüngste Tochter Wibke war damals knapp 6 Jahre alt. Sie hat keine Erinnerungen an ihn, da er während des Krieges kaum zu Hause in Halberstadt war. Sie vermisste ihn auch nie, bis sie eines Tages Filmaufnahmen von ihm bei seinem Prozess sieht. Sie schreibt: „Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen.“ Daraus entspringt der Entschluss, ihrem Vater näher zu kommen, sich um ihn zu kümmern, wie sie es nennt.

Es entsteht eine Familiengeschichte, die vom Aufstieg und Fall der Firma und der Familie erzählt, von den täglichen Sorgen und Freuden. Das Buch ist aber auch der Versuch, den Vater und auch die Mutter zu verstehen, die Mitglied der Partei waren, anfangs zumindest auch glühende Anhänger Hitlers. Sie versucht aus den vielen Briefen herauszulesen, warum ihr Vater erst sehr spät Zweifel bekommt, warum er im 1. Weltkrieg voller Begeisterung Soldat war. Warum er gegenüber der Judenverfolgung so gleichgültig war. Nicht immer findet sie eine Antwort darauf.

Was mich am meisten bewegt hat, war die Leistung ein Buch zu schreiben, das die Geschichte von gut 100 Jahren mit journalistischer Distanz erzählt und gleichzeitig ein doch sehr persönliches Buch ist. Wibke Bruhns wahrt die Distanz zu ihrem Vater und kommt ihm doch sehr nahe. Sie stellt ihn auf kein Podest, weil er als Mitwisser hingerichtet wurde, sondern setzt sich sehr kritisch mit ihm auseinander. Oft kommentiert sie z. B. seine Briefe mit „Der spinnt!“.

Ich kann dieses Buch also nur wärmstens empfehlen, selten habe ich ein „Geschichtsbuch“ gelesen, das ich fast nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Zum Abschluss noch ein Zitat aus dem letzten Kapitel: „Dein Leben lag in einer fürchterlichen Zeit, und wenn es denn für die Kinder besser werden sollte, das ist gelungen. Du hast den Blutzoll bezahlt, den ich nicht mehr entrichten muß. Ich habe von dir gelernt, wovor ich mich zu hüten habe. Dafür ist ein Vater da, nicht wahr? Ich danke dir.“