Als Freiwillige in der Ukraine

Zehn Tage war ich als Freiwillige in Lwiw in der Ukraine – diese zehn Tage zählen zu den wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Es war kein klassischer Urlaub, auf eine gewisse Weise anstrengend, aber sehr erfüllend.

Schon allein Lwiw gesehen zu haben, diese wunderschöne Stadt, ist etwas, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es vermisse. Von allen Städten, in denen ich war, ist sie mit Abstand die beeindruckendste. Ein solches geschlossenes Stadtbild aus Häusern verschiedener Epochen (Renaissance, Barock, Klassizismus, Historismus, Jugendstils und Art déco), noch dazu in dieser Größe, ist einfach überwältigend. Die Stadt lebt, ist quirlig und voller Energie. Ja, vieles ist renovierungsbedürftig, aber dieser „shabby chic“ macht auch den Charme Lwiws aus. Ein Besuch in der Oper von Lwiw darf natürlich nicht fehlen und ich habe mich sehr gefreut, dass die in der Ukraine sehr beliebte Oper „Die Saporoger an der Donau“ (Saporoger sind die Kosaken) von Semen Hulak-Artemovskyj gespielt wurde, einem ukrainischen Komponisten. Auch wenn ich vom Text nicht viel verstanden habe, war ich sehr begeistert, denn die Musik, die Sänger und das Bühnenbild waren toll.

Leider ist auch in Lwiw der Krieg allgegenwärtig, die Lebendigkeit der Stadt kann darüber nur auf den ersten Blick hinwegtäuschen. Schon allein die regelmäßigen Luftalarme, meistens mitten in der Nacht, erinnern daran, dass sich die Ukraine im Krieg befindet. Überall begegnet man Soldaten, viele Gebäude – vor allem offizielle – sind mit Sandsäcken gesichert. An den Kirchen wurden die wertvollen Fenster mit Metall ebenso geschützt wie die Statuen, die verpackt wurden. In den Museen sind die meisten Werke nicht zu sehen oder nur die Kopie, denn sie werden an sicheren Orten gelagert.

In der Kirche Peter und Paul ist fast jeden Tag mindestens ein Gottesdienst für einen gefallenen Soldaten. An einem habe ich teilgenommen und es hat mir das Herz gebrochen, die trauernde Familie und die weinenden Kameraden des Gefallenen zu sehen. So viele junge Menschen müssen ihr Leben lassen für diesen sinnlosen Krieg. So viel Trauer, so viel Schmerz! Gerade als der Sarg gesegnet wurde, ging der Luftalarm los – nicht einmal in diesen schmerzvollen Stunden werden die ukrainischen Menschen vom russischen Terror verschont. Neben dem großen Lytschakiwski-Friedhof musste ein neuer Friedhof angelegt werden für die Gefallenen dieses Krieges. Hunderte von Gräbern sind es inzwischen. Ich bin hingegangen, um die Soldaten zu ehren und ihrer zu gedenken. Aber lange war ich nicht dort, ich kam mir angesichts der Frauen und Kinder an den Gräbern wie ein Eindringling vor und wollte die Menschen in ihrer Trauer nicht stören.

Ein Meer von Fahnen auf dem Friedhof für die seit dem 24. Februar 2022 Gefallenen.

Gerade diese Erlebnisse sind es, die mich motivieren, mich weiter und noch mehr für die Ukraine zu engagieren. Sie brauchen und verdienen unsere volle Unterstützung. Spätestens nach der Sprengung des Staudammes in Nova Kakhovka, der massiven Angriffe auf die vielen mutigen Helfer und der Tatsache, dass den Menschen in den von Russland besetzten Gebieten nicht nur nicht geholfen wird, sondern vor der Sprengung ihre Boote zerstört wurden, habe ich nur noch tiefste Verachtung für die Terroristen aus Russland. Ein Gefühl, das ich von mir eigentlich nicht kenne.

Am liebsten wäre ich in Lwiw geblieben und hätte weiter geholfen. Neben all dem Leid, das so präsent ist, habe ich durch die Arbeit bei Front Line Kitchen viele wunderbare Menschen kennengelernt, aus der Ukraine und aus allen Ländern der Welt. Sie alle unterstützen die Ukrainer in ihrem Kampf auf vielfältige Weise. Die Front Line Kitchen (FLK) wurde 2014 von zwei ukrainischen Frauen gegründet, die seitdem die ukrainischen Soldaten mit fertigen, gesunden Mahlzeiten – in getrockneter Form – versorgt. Inzwischen hat sie sich auch zu einer Drehscheibe für diverse Hilfstransporte entwickelt.

Die zentrale Aufgabe für Freiwillige bei FLK ist das Schälen und Schneiden von Gemüse, Obst und Früchten. So viele rote Bete habe ich in meinem Leben noch nicht geschält! Aber rote Bete ist das wichtigste Gemüse, denn sie wird für Borscht gebraucht, die traditionelle und sehr beliebte Suppe in der Ukraine. Dafür gibt es zum Glück einen Schredder, der die rote Bete oder auch Karotten klein schneidet. Alles andere muss von Hand geschehen. Aber mit vielen anderen am großen Tisch ist das ein Vergnügen, es wird viel gequatscht und gelacht. Einige Videos dazu:

Das Gemüse wird gereinigt und kleingeschnitten: https://youtu.be/5j7O4xUBDVg

Der Shredder, der vieles einfacher macht: https://youtube.com/shorts/axfzHDz-_Js?feature=share

Das geschnittene Gemüse wird dann getrocknet und anschließend werden die einzelnen Zutaten für ein Gericht genau abgewogen und in einen Beutel gefüllt (Video: https://youtu.be/CJg9Ofixrlc). Es gibt verschiedene Suppen, Kascha (Haferflocken mit Früchten), Tee und Gewürze (Video: https://youtu.be/HLakYAtTXp0). Die Soldaten müssen die Mischung dann nur noch 10 bis 20 Minuten in heißem Wasser kochen und haben so schnell eine gesunde Mahlzeit für 10-15 Personen.

Ich habe auch mitgeholfen, ein Tarnnetz zu machen – etwas, was ich nie gedacht hätte zu machen. Da es für die Soldaten an der Front aber überlebenswichtig ist, knüpft man als Freiwillige eben auch ein Tarnnetz. An einen Rahmen wird ein Netz aus stabilem Faden gespannt, an das grüne Stoffreste in einem unregelmäßigen Muster gewoben werden. Jeder und jede hat dafür seine/ihre eigene Technik entwickelt, meine Technik war „nach Gefühl“. Scheint ganz gut geworden zu sein, jedenfalls wurde ich von Natalija, der „Chefin“ sehr gelobt für mein Werk. 😉 Mir hat diese Arbeit Spaß gemacht, sie ist meditativ und irgendwie Kunst. Während Gemüse schälen und die Gerichte zusammenstellen nicht so offensichtlich etwas mit dem Krieg zu tun haben, war es beim Tarnnetz anders – gerne hätte ich auf diese Erfahrung verzichtet. Trotz allem Geschnatter und Gelächter, das mit den Arbeiten und manchen Sprachhürden in unserem Englisch-Ukrainischen Kauderwelsch auch verbunden ist, wissen alle, warum wir hier sind. Der Krieg liegt wie ein Schatten über allem.

Doch die Verbundenheit zwischen den Soldaten an der Front und den vielen Helfern im Hintergrund ist groß, auch wenn uns hunderte von Kilometern trennen. Immer wieder senden die Soldaten Dankesvideos an FLK und dieses Mal haben uns litauische Soldaten, die Essen an die Front liefern, Patronenhülsen aus Bachmut mitgebracht, als Dankeschön für die Freiwilligen. Was für ein Geschenk! Ich habe meine per Post nach Hause geschickt, an der Grenze kann es damit ziemlichen Ärger geben, das wollte ich nicht riskieren. Ich hoffe, sie kommt an.

Ja, es war eine ungewöhnliche Art Urlaub zu machen, aber einen klassischen Urlaub wollte und konnte ich nicht verbringen. Alle Gedanken dazu fühlten sich nicht richtig an, in mir sträubte sich etwas, „nur“ gemütliche Tage für mich zu verbringen. In der Ukraine gibt es so viel zu tun, auch Tätigkeiten, die wirklich jede(r) verrichten kann. Es ist sehr befriedigend, etwas mit den Händen zu schaffen, die Berge an Gemüse zu sehen, die wir geschält und geschnitten haben, die gefüllten Tüten mit den Mahlzeiten, das fertige Netz. „разом – gemeinsam“ heißt eine Initiative des ukrainischen Botschafters in Deutschland, das ist das Wort unter dem der Einsatz als Freiwillige steht. Gemeinsam mit den Ukrainern tragen wir dazu bei, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann und die Menschen wieder in Frieden leben können. Gemeinsam geben wir den Ukrainern die Kraft und den Mut, weiterzukämpfen, ob an der Front oder im Hintergrund, denn die Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung sieht man ihnen an. Gemeinsam bringen wir etwas Menschlichkeit und Liebe in die Ukraine, die so viel Leid und Tod erfahren muss.

„Volunteering is not just a task, or a way to be famous, it is an investment in kindness and compassion.“

„Freiwilligenarbeit ist nicht nur ein Aufgabe oder ein Weg berühmt zu werden, sie ist ein Investition in Menschenliebe und Mitgefühl.“

(volunteeringinukraine.com auf Twitter am 11.6.2023)

Keine Tätigkeit ist zu bedeutungslos, wenn man auf diese gemeinsamen Ziele hinarbeitet. Die Ukraine braucht und verdient unsere Unterstützung auf allen Ebenen, denn die russischen Terroristen wollen sie vernichten und dabei können wir doch nicht tatenlos zusehen! Meiner Unterstützung können sich die Ukrainer auf jeden Fall sicher sein, ich werde sicher wieder hinfahren und das tun, was gebraucht wird, aber auch zu Hause wieder auf Demonstrationen gehen, das Friedensgebet mitgestalten und vieles andere.

Dieses Schild steht in der Bahnhofshalle. In grüner Schrift die Strecken, die derzeit leider nicht befahren werden können, in weißer die wieder offenen Strecken. Das Ziel ganz oben ist kein Ort, denn Peremoha heißt Sieg – der wird 2023 erreicht.

Vier Gründe, die Ukraine zu besuchen

English version: https://aequitas.blog/?p=1149

Ich bin jetzt den knapp eine Woche in der Ukraine, genauer gesagt in Lwiw, und liebe es! Lwiw ist die schönste Stadt, die ich jemals besucht habe! Ich habe mich sofort in sie verliebt und bin froh, trotz des Krieges gegen die Ukraine hierher gekommen zu sein. Eigentlich bin ich wegen des Krieges hier. Es gibt viele Gründe in die Ukraine zu reisen, trotz und gerade wegen des Krieges.

Meine Hauptmotivation war, als Freiwillige noch konkreter helfen zu können, dass dieser Krieg möglichst bald endet. Natürlich tragen Spenden, Demonstrationen und unser wöchentliches Friedensgebet auch dazu bei, aber mir war das nicht genug. Ich wollte nicht nur vom Seitenrand die Ukraine unterstützen, sondern aktiv, mit meinen Händen, mitarbeiten. Indem ich bei „Frontline Kitchen“ Gemüse putze und schneide, aus dem Mahlzeiten für die Soldaten an der Front zubereitet werden, sehe ich ein Ergebnis meines Engagements, sehe die Menschen, denen es hilft und die sich sehr freuen, dass Menschen aus vielen Nationen aufgemacht haben, ihren Beitrag zur Unterstützung der Ukrainer zu leisten.

Freiwillige bei der Front Line Kitchen in Lwiw bei der Arbeit.

Die Unterstützung ist auch für andere Bereiche wichtig. Schon allein, dass man in der Ukraine ist, hier eine Ferienwohnung mietet, isst und trinkt, also konsumiert, hilft der ukrainischen Wirtschaft. Ein Besuch eines Museums, eines Konzertes oder der Oper ist nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern trägt auch zum Erhalt und der Förderung ukrainischer Kultur bei. Viel zu lange wurde die ukrainische Kultur und Geschichte nicht als eigenständig wahrgenommen, sondern meist in die sowjetische oder – noch schlimmer – die russische Kultur und Geschichte subsumiert. Hier gibt es nicht nur für mich noch viel zu lernen und zu entdecken. Ich freue mich darauf!

Dieses Interesse an der Ukraine ganz allgemein und das vielfältige Engagement der Menschen weltweit, ist für die Ukrainer von enormer moralischer Bedeutung, wie es mir vorher nicht so deutlich bewusst war. Allen Freiwilligen erhalten soviel Dankbarkeit, werden herzlich begrüßt. Zu wissen, dass sie und ihr Kampf um ihr Leben, ihr Land und ihre Freiheit nicht vergessen werden, gibt den Ukrainern Kraft, weiter zu bestehen. Diese Unterstützung ist so wichtig wie Waffen und Panzer, denn die großartige freiwillige Arbeit die viele Ukrainer, die nicht in der Armee sind, neben Arbeit und Familie leisten, und die regelmäßigen Angriffe durch Raketen und Drohnen kosten ihnen viel Schlaf und Energie.

Lwiw

Nicht zuletzt ist natürlich die Ukraine selbst Grund genug, hierher zu kommen. Schon allein Lwiw muss man gesehen haben! Die Architektur dieser Stadt beeindruckt ungemein, es gibt viele schöne Parks und Plätze zum verweilen. Lwiw ist eine lebendige Stadt, mit vielen jungen Menschen, die Plätze sind bis in die Nacht (derzeit bis zur Ausgangssperre) voller Menschen. Die Hauptstadt Kyjiw oder Odesa und Charkiw sind ebenso eine Reise wert, aber auch die Landschaft ist beeindruckend. Ganz sicher werde ich auch eines Tages in die Karpathen fahren und dort wandern. Vor allem aber bin ich von den Ukrainern beeindruckt, die sich ihre Lebensfreude nicht nehmen lassen. Vielmehr, so mein Eindruck, feiern sie gerade wegen des Krieges das Leben und zeigen so den russischen Aggressoren ihren deutlichen Widerstand und setzen ihre Liebe zum Leben dem Vernichtungswillen Russlands entgegen.

Der unbarmherzige Samariter

Gewidmet Margot Käßmann und allen anderen Friedensbewegten.

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen. Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samaritaner, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt.

„Jetzt liegt er da verletzt,“ dachte er erregt, „selber schuld, warum hat er denn nicht verhandelt? Er hätte doch nur – außer seinem Mantel und seine Schuhe – sein Geld und seinen Proviant hergeben müssen, dann hätten die Räuber bestimmt von ihm abgelassen. Räuber sind ja an sich rationale Menschen, mit denen kann man doch reden. Man muss es nur wollen.“ Während er über die mangelnde Verhandlungsbereitschaft des Mannes nachdachte, fiel dem Samariter das Messer in dessen Gürtel auf. „Ich hab’s doch gewusst!“, rief er. „Wie kann man denn die Räuber derart provozieren! Die Räuber wussten sich bei dieser Bedrohung doch nicht mehr anders zu helfen, als ihn niederzuschlagen. ‚Frieden schaffen ohne Waffen!‘ ist ja mein Lebensmotto. Ist doch ganz einfach: Wenn einer aufhört, Waffen zu haben, machen alle anderen doch sofort mit. So ein Idiot, wie blöd kann man sein.“ Vorsichtig schaute er sich um und dachte: „Die Räuber sind bestimmt noch in der Nähe. Wenn ich dem Mann jetzt helfe – er sieht ja schon ziemlich übel zugerichtet aus – und die Räuber das sehen, lasse ich mich in deren Konflikt reinziehen. Nein, das riskiere ich besser nicht, am Ende kommen die mit dem riesigen Schwert, von dem ich neulich in der Zeitung gelesen habe, und hauen mir den Kopf ab. Mir tut der Mann ja leid, aber ich muss auch an mich denken.“

Zufrieden mit sich selbst und überzeugt, auf der moralisch und strategisch richtigen Seite zu sein, ließ er den Mann liegen, ging in die nächste Herberge und gönnte sich für zwei Denare ein üppiges Essen und reichlich Wein.

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Das Original des Gleichnisses, mit dem Jesus auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“ antwortet, ist bei Lk 10,25-37 zu lesen.

Ist unsere Demokratie in Gefahr?

Am Wochenende war ich wie so oft die letzten zwölf Monate auf eine Demo für die Ukraine. Gegenüber den Demos im März/April letzten Jahres sind die Teilnehmerzahlen an diesen Demos inzwischen sehr überschaubar. Die meisten Teilnehmer sind Ukrainer. Wegen der Sicherheitskonferenz und einiger teilnehmender Prominenz (Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter) waren es diesmal immerhin gut 1000 Menschen, die für die Ukraine und mit den Ukrainern auf dem Odeonsplatz demonstrierten. Zu den Rednern gehörten neben den Genannten auch der ukrainische Botschafter in Deutschland Oleksii Makeiev und der Politologe Carlo Masala. Der übrigens zum ersten Mal auf einer Demo gesprochen hat und angeblich nicht wusste, was er eigentlich sagen soll, aber dann doch viel – sehr Gutes – gesagt hat. 😉 Die Ukrainer haben sich immer wieder für die Hilfe aus Deutschland bedankt und zu weiterer Unterstützung aufgerufen.

Dieser Unterstützung der anwesenden Politiker und Bürger können sich die Ukrainer sicher sein. Auf dem Weg zum Odeonsplatz bin ich aber am Königsplatz vorbeigeradelt und mir wurde schlecht, als ich die russischen Fahnen sah. Hier hatte sich ein Bündnis aus AfD, „Querdenkern“, Verschwörungsgläubigen, Reichsbürgern, Rechtsextremisten , z. B. die Freien Sachsen, und offensichtlich Alt-68er Friedensbewegten zusammengefunden. Zu meinem Entsetzen war der Königsplatz voll, laut Polizei waren es 10 000 Menschen. Die durften dann auch noch durch Schwabing marschieren. Eine andere Demo der DKP und ähnlicher Gruppierungen – u. a. auch unter dem Slogan „Frieden“ – startete am Stachus und führte, man glaubt es kaum, an unserer Demo vorbei. Fast ein halbe Stunde dauerte das, in der unsere Demo massiv gestört wurde.

Dieser Nachmittag lässt mich frustriert und entsetzt zurück. Bislang war ich der Meinung, dass diese – wie soll ich sie nennen – „Pazifisten“, die sie nicht sind, nur eine laute Minderheit ist, aber das gestrige Zahlenverhältnis war für mich erschütternd. Ist dieses seltsame Bündnis aus Rechten, Linken und 68er-Pazifisten wirklich nur laut und spiegelt es nicht die Mehrheit der Bevölkerung wider? Sind diejenigen, die für die Ukraine und auch Waffenlieferungen sind, zu träge oder zu sicher, dass sich das schon irgendwie lösen wird? Ich für meinen Teil kann hier nicht mehr tatenlos zusehen, was ich gestern erlebt habe, macht mir große Sorgen: Sorgen um unsere Gesellschaft, die schon seit der Pandemie – wohl auch schon vorher, aber da wurde es offensichtlich – tief gespalten ist. Sorgen um unsere Demokratie, weil immer mehr Menschen das Vertrauen in den Staat verloren haben oder ihn gar ganz ablehnen. Sorgen machen mir auch die verhärteten Fronten und die Menschen, die nicht mehr für rationale Argumente zugänglich sind, die hinter allem eine Verschwörung sehen und sich mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufrieden geben. Die in einem „starken Mann“, der endlich mal durchgreift und aufräumt, die Lösung ihrer und der Probleme Deutschlands sehen.

Ich kann nur an alle appellieren: Überlassen wir diesen Menschen nicht die Meinungshoheit, zeigt eure Meinung offen und unterstützt die Ukraine so gut es geht. Bis vor einem Jahr war ich in meinem Leben einmal auf einer Demo, das war bisher aus verschiedenen Gründen nicht mein Ding. Aber inzwischen kann ich nicht mehr nur dabei vom Sofa aus zusehen, wie zerstörerische Kräfte unsere Demokratie aushebeln wollen. Ich kann auch nicht tatenlos dabei zusehen, dass Russland die Ukraine vernichten will. Es will auch nicht in meinen Kopf, wie man unter dem Vorwand des Friedens dafür plädieren kann, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern. Wie kann man angesichts der Bilder und Berichte von Vergewaltigung, Ermordung, Deportation und Folter auf diese Idee kommen? „Frieden schaffen ohne Waffen“ habe ich gestern mehrfach im Vorbeifahren gelesen – wie soll das denn in der Ukraine funktionieren? Idealismus und Prinzipien sind ja gut und richtig, aber wenn sie an der Realität scheitern, sind sie wenig wert. Und die Realität ist, dass für die russische Führung und ihre Propaganda die Ukrainer „Untermenschen“ sind, die ausgelöscht oder umerzogen werden müssen. Die Realität ist, dass Russland diesen Krieg nicht eher beenden wird, bis es militärisch geschlagen ist. Die Realität ist auch, dass der Machthunger Russlands über die Ukraine hinausreicht, Moldau ist ja schon besetzt und wird konkret bedroht.

Ich war und bin immer noch Pazifist und würde immer dafür plädieren, zuerst einen Weg über Gespräche zur Konfliktbewältigung zu gehen. Nur im Fall des Krieges Russlands gegen die Ukraine gibt es diesen Weg nicht mehr – lange genug wurde er versucht. Putin will gar nicht verhandeln und wenn, dann nur unter der Bedingung, dass die „territorialen Realitäten“, wie sie es nennen, nicht verhandelbar sind, die Ukraine soll aber ohne Bedingungen in solche Verhandlungen gehen. Das sind doch keine Verhandlungen, sondern die Aufforderung zur Kapitulation der Ukraine. Wenn eine solche Übereinkunft zustande käme, wäre das kein Frieden, sondern eine Friedhofsruhe – im wahrsten Sinne des Wortes. Dann würden weitere Städte dem Schicksal des zerstörten Mariupols folgen.

Was mich auch immer wieder fassungslos macht, ist wie mit einer Selbstverständlichkeit beim Thema Verhandlungen die Ukraine bestenfalls als Objekt betrachtet wird über das verhandelt wird. Es scheint bei manchen Leuten noch nicht angekommen zu sein, dass die Ukraine seit 1991 ein souveräner Staat ist, der souveräne Entscheidungen trifft. Auf der Demo wurde ich von einem Fernsehteam interviewt, wie ich denn Waffenlieferungen an die Ukraine sehe usw. (Mein erstes Fernsehinterview!). Da ich auf der Pro-Ukraine-Demo war, waren die Antworten ziemlich offensichtlich. Ich habe der Interviewerin gesagt, dass sie auch Ukrainer befragen soll, deren Stimme und Stimmung sollte viel mehr zu Wort kommen, weil sie direkt betroffen sind.

Ich habe mich lange aus politischen Diskussionen herausgehalten und es fällt mir immer noch nicht leicht, aber gestern hat mich endgültig wachgerüttelt und ich hoffe, viele schließen sich an. Auch wenn ich keine Idee habe, wie man diese „abgedrifteten“ Menschen wieder ins Boot der Demokratie und des vernünftigen Diskurses holen kann, will ich zumindest in meinem bescheidenen Rahmen durch die Teilnahme an Demos meine Position deutlich machen. Zudem bin ich dabei, meine erschreckenden Wissenslücken – genau genommen ist es ein einziges großes Loch – zu Osteuropa im Allgemeinen und zur Ukraine im Speziellen zu schließen. Das würde, nebenbei bemerkt, manchen Briefe- und Manifestschreibern und Demonstranten, die auf dem Königsplatz waren, auch nicht schaden. Dann würde das verklärte Russlandbild nämlich sehr schnell bröckeln und man würde merken, dass die Ukraine eine lange Geschichte hat und eben sehr viel mehr ist als nur „Kleinrussland“.

Erlaubt mir am Ende dieses zugegeben emotionalen Beitrags noch ein paar Empfehlungen, wie ihr die Ukraine unterstützen könnt und einige Empfehlungen, wenn ihr mehr über die Geschichte der Ukraine wissen wollt (es lohnt sich!).

Geschichte der Ukraine:

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder, ISBN 978-3-406-71410-8 (kurz und knackig)

Serhii Plokhy, Das Tor Europas, ISBN 978-3455015263 (ausführlich, aktuellstes Werk)

Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3150143261

Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3406735585

13-teilige Vorlesung von Timothy Snyder (Professor in Yale, renommierter Osteuropa-Historiker): The Making of modern Ukraine

Unterstützung für die Ukraine (eine kleine Auswahl):

Caritas: https://www.caritas-international.de/spenden/online/formular?id=A0230M005

Ukrainisch-katholische Gemeinde/Exarchie: http://www.ukr-kirche.de/seite/570811/hilfe-f%C3%BCr-die-kriegsopfer-in-der-ukraine.html

Verein München hilft Ukraine: https://www.muenchen-hilft-ukraine.de/spenden

SOS-Kinderdörfer: https://www.sos-kinderdorf.de/portal/spenden/wo-wir-helfen/europa/ukraine

Über DHL kann man kostenlos Pakete in die Ukraine schicken, die ukrainische Post verteilt den Inhalt dahin, wo es gebraucht wird: https://www.dhl.de/de/privatkunden/information/hilfe-ukraine.html

Initiative von Timothy Snyder: https://u24.gov.ua/shahedhunter (oder auch andere Projekte, auch humanitäre, auf der Seite des ukrainischen Präsidenten: https://u24.gov.ua/)

Auf Empfehlung von Aleksander Pavkovic: Blindenschule in Charkiw


Alte Lieder, alte Texte und vierter Advent

Gestern haben wir mit einer kleinen Besetzung des Chores im Vorabendgottesdienst alpenländische Adventslieder gesungen. Ich liebe diese Lieder, sie strahlen so viel Wärme und Liebe aus. Die Melodien sind richtige Ohrwürmer, noch Tage danach singe ich sie vor mich hin. Die Lieder zeugen von einem tiefen Glauben, viel Hoffnung und singen von der freudigen Erwartung auf die Geburt Jesu.

Die Texte gehen in die Tiefe, aber manche Ausdrücke oder Worte lassen doch stutzen, weil sie in unserem Sprachgebrauch nicht mehr vorkommen. Ich habe jedenfalls noch nie davon gehört oder gelesen, dass die Hirten „gute Zeitung bringen“ vom Erlöser dieser Welt. Ein Blick in Wikipedia verrät, dass „Zeitung“ ursprünglich ganz allgemein „Nachricht“ meinte und erst im Lauf des 18. Jahrhunderts der Begriff auf das gedruckte Medium verengt wurde.

Das ganze Lied „Ach, mein Seel’“, dessen Text ich als sehr tiefgehend empfinde:

Habt ihr schon mal auf etwas „hart gewartet“? Ich nicht. „Harte Liebe“ und ähnliches ist ist bei jüngeren Menschen heute wieder sehr gebräuchlich, wenn „sehr“ oder „ groß“ gemeint ist. Mir erschließt sich die Benutzung des Begriffes in diesem Zusammenhang nicht, aber wenn es in einem alten volkstümlichen Lied gebraucht wird, hat es wohl seine Berechtigung. Das Lied „Rorate! Ach, tauet ihr Himmel“ nimmt in der ersten Strophe den Text des Introitus (Eröffnungsverses) vom vierten Adventssonntag „Rorate coeli desuper et nubes pluant justum “ (Jesa 45, 8) – „Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab.“

Beschwingt wie der Engel, der gerade das „Ja!“ Marias gehört hat, und der freudig zu Gott zurückfliegt, ist das Lied „Ave Maria, mit Gnaden gezieret“. Der Text ist feine Poesie, schlicht und doch ergreifend.