Ach, es ist Fußball-Weltmeisterschaft?

Die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer geht los – und es interessiert mich kein bisschen. Ich werde kein einziges Spiel schauen und wer Weltmeister wird ist mir auch egal. Das sage ich, die seit ihrem 12. Lebensjahr ein glühender Fußballfan war! Es hat zudem recht wenig mit mir zu tun, der Sport an sich (nicht nur Fußball) begeistert mich immer noch, passiv wie aktiv.

Im Sommer habe ich mir beim den European Championship zum ersten Mal Bahnradfahren live angesehen und war begeistert. Auch wenn ich manche Regeln nicht ganz verstanden hatte, war es unglaublich spannend und aus deutscher Sicht sehr erfolgreich. Auch beim Triathlon der Männer habe ich mit allen Athleten mitgefiebert und alle angefeuert, vom ersten bis zum letzten. Und mit mir die vielen Menschen, die an der Strecke standen.

Mir wurde dabei bewusst, was mich am Profifußball die letzten Jahre immer mehr abgestoßen hatte. Es geht dort nur noch um den Kommerz, darum die Kuh Fußball möglichst gewinnbringend zu melken. Und man geht dabei buchstäblich über Leichen. Es wurden neue Wettbewerbe wie die Super oder Nations League eingeführt, die noch mehr Kohle bringen sollen. Der Fußball, der Sport an sich, ist nur Nebensache.

Zu Beginn meiner Fußballbegeisterung habe ich über jedes Spiel „meines“ VfB Stuttgart Buch geführt, vor allem über meine Lieblingsspieler Hansi Müller und Karlheinz Förster. Den jährlichen Kicker Almanach habe ich praktisch auswendig gelernt. Ich bin sogar mal extra nach Innsbruck gereist, um endlich mal den von mir sehr verehrten Hansi Müller live spielen zu sehen, der bei den anderen Spielen in München und Stuttgart leider nicht mitspielte. Aber auch dieser Aufwand war leider umsonst. Meine in Fußballdingen desinteressierte Freundin im Ruhrpott, die ich im Sommer 2007 besuchte, musste mit mir in einer Kneipe die Live-Konferenz anschauen, als der VfB am letzten Spieltag Meister wurde. Mann, war ich glücklich!

Irgendwann danach schwand mein Interesse immer mehr. Die Weltmeisterschaft 2014 war das letzte Ereignis, bei dem ich emotional involviert war. Danach war die Nationalmannschaft nur „Die Mannschaft“, eine Marke, mit der ich mich immer weniger identifizieren konnte. Die Bundesliga ist im Grunde langweilig, das einzig Interessante ist, wer absteigt. Die Transfersummern und Gehälter für Spieler erreichen absurde Höhen, die nach meiner Ansicht durch nichts gerechtfertigt sind. Und dann noch das dauernde Mimimi der Spieler, wenn sie „englische Wochen“ haben, also zweimal die Woche spielen müssen – es soll ja Arbeitnehmer geben, die mindestens fünf Tage die Woche arbeiten, für einen Bruchteil des Gehalts. Der Profifußball ist inzwischen für mich eine andere Welt, an der ich nicht mehr teilhabe und auch nicht mehr teilhaben will. Mit der Vergabe der WM an Katar war für mich der Profifußball endgültig gestorben. Deutlicher konnte man kaum zeigen, dass der Fußball nur das Vehikel ist, um Geld zu scheffeln.

Ich versuchte dann, mich für den Frauenfußball zu begeistern, aber das gelang nicht so richtig. Ich finde Fußball inzwischen meistens langweilig, ganz im Gegensatz zu Handball oder Eishockey. Schwimmen könnte ich sowieso stundenlang schauen.

Ich will mich wieder für den Sport selber begeistern und ich bewundere jeden Einzelnen, der Jahre lang dafür trainiert, um bei Wettkämpfen erfolgreich zu sein. Es ist mir dabei egal, ob der Sportler Olympiasieger wird oder als letzter ankommt, Profi oder Amateur ist, jeder hat sein Bestes gegeben, ist über sich hinausgewachsen und hat seinen inneren Schweinehund überwunden. Darum werde ich mich wieder mehr den vermeintlichen „Randsportarten“ zuwenden, vor allem meinem heißgeliebten Schwimmen. Der Fußball – das war einmal.

German angst

Ich muss mir jetzt mal meinen Ärger und Frust von der Seele schreiben. Äußerer Anlass ist die Äußerung von Friedrich Merz, dass es „Sozialtourismus“ von Ukrainern gäbe, die nach Deutschland kämen, um Grundsicherung zu bekommen und anschließend wieder in die Ukraine zurückfahren. Die unser Sozialsystem ausnützen würden. Vermutlich gibt es einige Ukrainer, die das tatsächlich tun, aber der Prozentsatz dürfte sich in der selben Größenordnung bewegen wie es Deutsche – oder irgendeine andere Nationalität – gibt, die ebenfalls das System ausnutzen. Aber die Ukrainerinnen, die gelegentlich in ihre Heimat zurückfahren, tun das aus gutem Grund: Weil sie sich um ihre Angehörigen kümmern, weil sie Angehörige beerdigen müssen, Behördengänge erledigen oder schlicht ihre Männer und Söhne kurz sehen wollen, wenn die auf Fronturlaub sind.

Aber abgesehen von dem inhaltlichen Unsinn, den Herr Merz von sich gegeben hat, entsetzt mich an solchen Aussagen noch viel mehr: Schon seit Anfang der Corona-Pandemie wird die Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher und der Spalt zwischen den Menschen wird seit der Invasion Russlands in die Ukraine immer größer. Russische Propaganda zeigt ihre Wirkung in allen Gesellschaftsschichten. Ich habe große Sorge, dass die Situation weiter eskaliert.

In dieser Zeit würde ich mir Politiker und andere gesellschaftliche Akteure wünschen, die Zuversicht ausstrahlen, den Menschen Hoffnung machen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Und nicht, dass eine Gruppe von Menschen gegen die andere ausgespielt wird, weil sich (vielleicht) einige daneben benehmen. Oder Politiker, die ständig das schlimmste Szenario, einen Atomkrieg, in der Öffentlichkeit beschwören und davor warnen. Sicher darf man diese Drohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber die geäußerte eigene Angst stärkt diejenigen, die ohne Rücksicht auf die Ukraine ein Ende der Sanktionen und einen Waffenstillstand fordern. Ich wünsche mir ein ehrliches „Wir schaffen das!“, angesichts der berechtigten Sorgen – die ich auch habe – vor den nächsten Monaten und den Kosten, die noch auf uns zukommen. Es war ja schon wohltuend, als Herr Habeck kurz vor seiner Reise nach Katar ehrlich gesagt hat, ja die Situation ist beschissen und wir haben nur schlechte Lösungen, aber wir werden eine Lösung finden.

Ich wünsche mir Politiker, denen es tatsächlich um das Land und dessen Bevölkerung geht und nicht um das eigene Ego. Aber ich fürchte, die sind rar gesät. Ja, ich weiß, Demokratie ist anstrengend und zum Glück darf ich mit den Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sein, aber wenn das Dauerzustand ist, ist es eben zum verzweifeln. Mehr denn je bräuchten wir echte Führungskräfte, die es schaffen, die Menschen mitzunehmen, sie zu motivieren. Vielleicht könnte sich unser Bundeskanzler ein Beispiel an Herrn Selenskyi nehmen, der jeden Abend seit dem 24. Februar eine Videobotschaft sendet, in der er von den Ereignissen des Tages erzählt, was am nächsten Tag oder in nächster Zeit ansteht. Er bedankt sich fast jeden Tag bei verschiedenen Menschen, natürlich vor allem bei den Soldaten und gedenkt der Gefallenen. Er schafft dadurch eine Nähe, die einem das Gefühl gibt, dass alle an einem Strang ziehen, ein gemeinsames Ziel haben.

Solch ein gemeinsames Ziel sehe ich in Deutschland nicht, keine Vorstellung davon, wie wir gemeinsam als Gesellschaft in nächster Zeit zusammenleben wollen. Wie den enttäuschten, wütenden und verzweifelten Menschen wieder eine Perspektive gegeben werden kann. Wie man die sich radikalisierenden Menschen, die Verschwörungserzählungen anhängen und der russischen Propaganda nachlaufen, wieder in die Gesellschaft „zurückholen“ will. Die „German angst“, diese diffuse Angst vor dem Leben und vor der Zukunft, der Angst vor Entscheidungen, scheint das Handeln mehr zu bestimmen als tatkräftiges Zupacken, Mut oder Zuversicht. Das lässt mich derzeit sehr frustriert zurück und ich weiß nicht so genau, wie ich damit umgehen soll und was ich machen kann.

Die Unordnung der Welt und was ich tun kann

Unsere Welt scheint aus den Fugen zu geraten: Es ist Krieg in Europa, im Iran eskalieren die Proteste gegen das Regime, es gibt Hungersnöte in vielen Ländern Afrikas, politische Kräfte agitieren, die die Gesellschaften spalten und destabilisieren, der Klimawandel, durch den unsere Lebensgrundlage zerstört wird, ist kaum aufzuhalten und so viel mehr. Mir macht das Angst, auch deswegen, weil ich mir ziemlich hilf- und machtlos vorkomme und ich mich allem ausgeliefert fühle. Das was ich tue, scheint mir nur ein winziger Tropfen im großen Meer zu sein, der nichts bewirkt.

Seit Anfang März halten wir jeden Sonntag ein Friedensgebet, etwa 20 bis 30 Menschen nehmen daran teil, viele von ihnen sind treue Stammgäste. Wir beten um Frieden in der Ukraine und in der Welt. Wir glauben fest daran, dass unser Gebet etwas bewirken kann, wir sind schließlich nicht die einzigen. In Erfurt gibt es seit über 30 Jahren ein Friedensgebet, das mit den Demonstrationen in der DDR 1989 begonnen wurde! Es mag für den Einzelnen nicht viel sein, aber zusammen entsteht aus dem Gebet viel Kraft.

Zudem gehe ich seit Beginn des Krieges in der Ukraine immer wieder demonstrieren, etwas,  das ich in meinem bisherigen Leben nur einmal getan habe. Es fiel mir bisher immer schwer, mich politischen Demonstrationen anzuschließen, warum genau, kann ich nicht richtig sagen. Aber das hat sich mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine geändert. Er hat mich politisiert wie nichts zuvor. Es ist mir wichtig, das bisschen, was ich tun kann für die Ukrainer, nämlich meine Stimme zu erheben und mich mit ihnen zu solidarisieren, auch zu tun. Ich bin jedes Mal wieder beeindruckt von den ukrainischen Menschen, vor allem von den jungen. Sie lieben ihr Land, kämpfen dafür und sind dankbar für jede Hilfe.

Heute habe ich gelernt, wie man den Menschen im Iran und anderen Ländern, in denen das Internet zensiert ist, helfen kann. Mit dem Add-on „Snowflake“ für Firefox und Chrome bzw. der Internetseite https://snowflake.torproject.org/ kann man einen Proxy bereitstellen, mit dem die Menschen die Zensur umgehen können. Eine Handvoll Klicks für mich, für einen Menschen im Iran die Möglichkeit, der Welt mitzuteilen, was dort geschieht.

Ja, das sind meine kleinen Schritte, so winzig und unbedeutend sie mir auch vorkommen mögen, hoffe ich doch, dass sie etwas bewirken. Aber die Sorge um die Zukunft in unserem Land, in Europa und der Welt bleibt trotzdem. Das Gefühl zu wenig zu tun auch. Was kann ich tun, um die berechtigten Sorgen der armen Menschen in Deutschland vor diesem Winter und der Energiekrise zu lindern? Wie wird der Krieg in der Ukraine weitergehen? Und die Bilder von den hungernden Menschen in Somalia und anderen Ländern kann mich doch auch nicht kalt lassen?

Ich denke, es ist an der Zeit, die eigene Komfortzone zu verlassen. Wie das genau aussieht, weiß ich noch nicht, aber ich spüre, dass mich etwas antreibt. Vielleicht ist es auch die Abenteuerlust, die in mir wieder erwacht ist, aber auch das Bedürfnis (und die Selbstverständlichkeit) mich ehrenamtlich zu engagieren, was seit meinem Rückzug aus der Kirche darniederliegt. Mal sehen, wo es mich hintreibt.

Frieden oder Freiheit?

Diese Frage stellte neulich jemand auf Twitter. Wenn ihr euch nur für Frieden oder nur für Freiheit entscheiden müsstet, was würdet ihr wählen? Ich hab darauf geantwortet, dass ich das nicht entscheiden kann, weil beides voneinander abhängt, dass es Frieden ohne Freiheit nicht gibt und Freiheit nicht ohne Frieden. Diese Frage lässt mich nicht mehr los. Ihr dürft mir beim Nachdenken zuschauen bzw. mitlesen …

Ich denke, zuerst muss man bei dieser Diskussion definieren, was man unter Freiheit und Frieden versteht. Beides ist für mich sehr vielschichtig, das sich gar nicht so einfach definieren lässt. Ich versuche es. Dem sei vorausgeschickt, dass mir natürlich klar ist, dass es die absolute Freiheit und den absoluten Frieden auf Erden, in dieser Welt nicht gibt.

Absolut frei ist für mich nur Gott, der sich frei – ohne Restriktionen durch Erziehung, Gesellschaft, Moral oder Instinkte – entscheiden kann. So ist meine Definition von Gottes Allmacht. Frieden in seiner absoluten Form verstehe ich wie den hebräischen Shalom, der mehr meint als die Abwesenheit von Krieg. Das hebräische Wörterbuch, „der Gesenius“, führt viele Definitionen für Shalom auf, eine ist mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben: Ein Zustand, der keine Wünsche mehr offen lässt. Das war immer Gottes Auftrag an die israelitischen Könige, sie sollten für „Recht und Gerechtigkeit“ sorgen. Wie gut das geklappt hat kann man in der Bibel nachlesen (Spoiler: Gott war meistens nicht so richtig begeistert über die Ausführung seines Auftrags). In diesem Sinn halte ich Frieden für eine Utopie, wenn auch als Ziel erstrebenswert.

Wir Menschen sind Begrenzungen unterworfen, von denen wir uns nicht oder nur wenig befreien können. Instinkte, die für unsere Urahnen lebensnotwendig waren, beeinflussen – meist unbewusst – unsere Entscheidungen. Unsere Sozialisation und Erziehung setzen einen Rahmen, in dem wir uns bewegen, ethische und moralische Vorstellungen unserer Gesellschaft prägen unser Denken und Handeln, Gesetze und Verordnungen reglementieren unser Zusammenleben. (Immer öfter hege ich sogar Zweifel, ob der Mensch überhaupt einen wirklich freien Willen hat oder ob das nur eine Idee ist, die wir uns ausgedacht haben, um uns von den Tieren abzuheben. Aber das nur nebenbei, vorerst gehe ich davon aus, dass wir diesen freien Willen haben und folglich in Freiheit leben können.)

Insofern gehe ich von Frieden und Freiheit aus, wie sie uns Menschen mit all unseren Restriktionen möglich sind bzw. möglich sein können.

Für mich ist Freiheit zunächst das Leben ohne äußeren Zwang, dass ich mein Leben gestalten kann, wie ich es möchte, wie es in den Grundrechten festgelegt ist. Als Mensch geachtet zu sein, unabhängig von meiner Herkunft, Weltanschauung, Religion, Bildungsstand, Familienstand etc. Freiheit ist es auch, eine eigene Meinung zu haben und diese äußern zu dürfen. Die finanzielle Unabhängigkeit ist für mich ein Pfeiler, auf dem meine persönliche Freiheit steht. Als Gesellschaft sind wir frei, wenn wir freie Wahlen haben oder mit Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sein dürfen, ohne eine Verhaftung fürchten zu müssen. Wir sind frei, wenn wir offen über unterschiedliche Meinungen diskutieren können. Eine Gesellschaft ist frei, wenn die Mehrheiten die Minderheiten schützen und ihnen den ihnen zustehenden Raum geben. Unbedingter Respekt voreinander ermöglicht Freiheit.

Frieden zwischen Staaten haben wir in Westeuropa seit fast 80 Jahren, einen Frieden, der mehr ist, als die Abwesenheit von Krieg. Völker haben eine jahrhundertelange „Erbfeindschaft“, die unauflöslich schien, beendet und arbeiteten an einem vereinten Europa, das wirtschaftlich weitgehend prosperierte und Freiheit auf vielen Ebenen brachte. Ich halte es für ein großes Privileg, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. Wie fragil so ein Frieden ist, wie sehr darum gekämpft werden muss, erleb(t)en wir immer wieder, in Europa und in der Welt.

Auch der Frieden im Kleinen, in unserem alltäglichen Leben, ist eine Herausforderung. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, die Meinung eines Anderen fordert uns heraus, der Chef verlangt Unmögliches, die Kinder hören nicht zu – wir alle kennen das in der einen oder anderen Form.

Man könnte auch sagen, die Freiheit des anderen stört den Frieden. Seine oder ihre Freiheit trifft auf meine Freiheit, aber die Schnittmenge ist klein. Schon steht der Frieden auf wackeligen Beinen. Idealerweise – und meistens – finden zwei Menschen eine Lösung, die Schnittmenge ihrer Freiheiten zu vergrößern und damit friedvoll miteinander umzugehen. Aber wenn das nicht zustande kommt, ist der Frieden bedroht. Die persönliche Freiheit des Einzelnen birgt immer die Gefahr des Unfriedens, aber gleichzeitig ist sie auch die Möglichkeit zum Frieden, wenn wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten.

Ein Frieden ohne Freiheit ist nur ein Scheinfrieden, der Differenzen negiert und die Menschen unterdrückt. Beispiele in der Weltgeschichte gab und gibt es genug. Irgendwann platzt diese Blase des vermeintlichen Friedens und die Freiheit bricht sich Bahn.

Und Freiheit ohne Frieden, geht das? Sind zum Beispiel die Menschen in der Ukraine, die in „sicheren“ Städten leben, ganz normal ihrer Arbeit nachgehen und ihren Alltag leben, aber trotzdem ständig in Sorge um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen sind, wirklich frei? Ich würde mich wohl nicht frei fühlen, aber vielleicht sehen das die Menschen in der Ukraine anders. Wladimir Klitschko schreibt in einem Beitrag heute „The absolute good is not peace, but freedom and justice, and to defend them you must fight.“* Das absolute Gute ist nicht Frieden, sondern Freiheit und Gerechtigkeit, und um sie zu verteidigen, muss man kämpfen. Und er hat recht, Freiheit ist der Boden, auf dem Frieden gedeihen kann. Ja, Frieden und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sondern unsere höchsten Güter, um die wir uns jeden Tag bemühen müssen, im Kleinen wie im Großen.

* https://www.linkedin.com/pulse/ukraine-does-need-abstract-moral-sermons-concrete-klitschko?trk=public_profile_article_view

Es ist kompliziert – die Kirche und ich

Die katholische Kirche und ich, das ist seit längerem ein kompliziertes Verhältnis. Es gibt so vieles, was ich dazu aufschreiben kann und vielleicht werden aus diesem Thema mehrere Blogbeiträge. Derzeit ist von meiner Seite das Verhältnis eher kühl und dementsprechend wenig bin ich in der Pfarrei engagiert. Eigentlich bin ich ganz froh, dass bis auf Gottesdienste keine weiteren Veranstaltungen stattfinden und ich eine Zeit lang auf Distanz gehen kann, um mir zu überlegen, wie es für mich mit der Kirche weitergehen soll.

Mein Vertrauen in die Institution Kirche wurde schon durch die Missbrauchsfälle und deren schleppende Aufklärung erschüttert, der Schutz der Institution war und ist in vielen Fällen wichtiger gewesen als der Schutz der betroffenen Menschen. Auch wenn sich bislang einiges in der Prävention getan hat und redlich versucht wird, Missbrauch so weit wie irgend möglich zu verhindern, bleibt doch immer das Gefühl zurück, dass diese Maßnahmen nicht reichen, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Bislang konnte ich dieses Gefühl nicht richtig in Worte fassen, doch die heutige persönliche Erklärung von Kardinal Marx zu seinem Rücktrittsgesuch an den Papst hat das getan:

„Diese Krise berührt nicht nur das Feld einer notwendigen Verbesserung der Administration – das auch –, es geht mehr noch um die Frage nach einer erneuerten Gestalt der Kirche und einer neuen Weise, heute den Glauben zu leben und zu verkünden. Und ich fragte mich: Was bedeutet das für dich persönlich?“

Persönliche Erklärung von Reinhard Kardinal Marx am 4. Juni 2021

Ich bin ehrlich beeindruckt, dass Kardinal Marx diesen Schritt geht und halte ihn für richtig, gleichzeitig bedauere ich ihn, denn er ist einer der Bischöfe in Deutschland, der erkannt hat, dass sich die Kirche ändern muss, dass ein „Weiter so“ die Kirche in die Bedeutungslosigkeit führen wird. Kardinal Marx geht den schmerzhaften Weg des Schuldeingeständnisses, als Vertreter einer Institution und als Christ. Ist das nicht ein auch ein Glaubenszeugnis, Schuld einzugestehen? Nur so kann doch Versöhnung erst möglich werden. Konzepte zur Missbrauchsprävention zu erarbeiten, mit den betroffenen Menschen zu reden und sie zu entschädigen und die Aufarbeitung dieser Taten voranzutreiben, ist zweifellos wichtig, aber das ist, wie Kardinal Marx heute sagte, ein administrativer und juristischer Umgang mit den Missbrauchsfällen. Die andere Seite ist die Sünde gegenüber den Menschen und letztlich gegenüber Gott. Diese Sünde kann nicht mit Geld oder bloßen Worten des Bedauerns, ohne persönliche Konsequenzen weggewaschen werden. Hier braucht es ehrliche Reue und den Willen zur Umkehr und Neuorientierung. Das hat Kardinal Marx heute vorgemacht und das finde ich bemerkenswert.

Zugleich habe ich Sorge, dass durch den (voraussichtlichen) Rücktritt von Kardinal Marx die Gläubigen, die sich Reformen wünschen, einen wichtigen Fürsprecher und Mitstreiter verlieren und die beharrenden Kräfte wieder Oberhand gewinnen. Die zarten Schritte in eine neue Zukunft drohen stehenzubleiben. Ich bin gespannt, eher angespannt, wer ihm als Erzbischof von München und Freising nachfolgen wird.

Diese beharrenden Kräfte haben auch dafür gesorgt, mich noch mehr zu erschüttern als ich es von der Missbrauchskrise sowieso schon war. Das Verbot der Segnung homosexueller Paare hat mir, wie so vielen, den Boden unter den Füßen weggezogen. Um einen Segen zu erhalten, braucht es doch keine besondere Disposition, keine Voraussetzung, die irgendwelchen Normen des Kirchenrechts entspricht. Wer um den Segen bittet, bekommt ihn. So einfach ist das doch. Dass man darüber diskutieren kann und will, rüttelt für mich an den Fundamenten unseres Glaubens. Jesus hat sich doch aller Menschen angenommen und das ist auch unser Auftrag als Christen. Der Segen, im wörtlichen (lateinischen) Sinn jemanden etwas Gutes zuzusprechen, ist doch kein Mittel des Urteils über die Lebensweise der Menschen. Bei Tieren, Häusern und Motorrädern fragt ja auch keiner danach, die werden einfach gesegnet.

Auch hier sehe ich wieder die Kräfte am Werk, denen der Schutz der Institution und deren Lehre wichtiger ist, als das Evangelium. Wollen wir wirklich soviel Zeit damit verbringen, über Strukturen, Ämter und Macht zu diskutieren und das Bild eines zerstrittenen Haufens abgeben, der sich in Diskussionen verstrickt, die jedem weltlichen Unternehmen „würdig“ wären? Natürlich muss auch darüber gesprochen werden, keine Frage, aber unsere Kernkompetenzen, der Glaube, die Liebe und die Hoffnung kommen in den letzten Jahren nur am Rande vor. Oder wie es Erzbischof Cristóbal López aus Marokko treffend sagte:

„Es gibt Orte, an denen es viel Kirche und wenig Reich (Gottes) gibt.“

https://www.katholisch.de/artikel/29922-kardinal-mancherorts-gibt-es-viel-kirche-aber-wenig-reich-gottes

Insofern bin ich Kardinal Marx auch dankbar für seine geistliche Begründung seines Rücktrittsgesuchs. „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es erhalten.“ (Lk, 17,33), sagte er. Nur so können wir als Kirche wieder glaubwürdig werden, wenn die Botschaft und unser Handeln übereinstimmen, wenn wir uns – in einem positiven Sinn – von der Welt unterscheiden. Sein Rücktritt gibt mir eine kleine Hoffnung zurück, dass zumindest ihm die Institution Kirche und ihre Botschaft wichtiger sind als persönliche Eitelkeiten. Mich stimmte es auch trotz aller Erschütterung und fast schon Verzweiflung nach der Entscheidung aus dem Vatikan zuversichtlicher, dass viele Bischöfe über dieses Schreiben fassungslos waren. Es fällt mir nicht leicht, mich aus der Kirche zurückzuziehen, weil ich grundsätzlich die christliche Botschaft leben und vermitteln will, aber derzeit fehlt mir die Kraft und die Überzeugung für die katholische Kirche einzustehen. Dazu sind für mich die Vorkommnisse und Entscheidungen der letzten Monate und Jahre – in der Weltkirche, aber auch in der Ortskirche – zu gravierend und fundamental, um sie wegerklären oder tolerieren zu können. Ich hoffe, eines Tages diese Überzeugung wieder zu haben und wünsche es mir. Derweil werde ich darüber mit Kardinal Marx darüber nachdenken, was eine erneuerte Kirche für mich persönlich bedeutet.