Die Beginen

Auszug aus meiner Diplomarbeit über Mechthild von Magdeburg und ihr Buch „Das fließende Licht der Gottheit“

Eine wichtige Gruppierung in der Armutsbewegung ab dem 11. Jahrhundert sind die Beginen, die um die Jahrhundertwende des 12./13. Jahrhundert entstanden und eine gemeinschaftliche Lebensform in Armut und Keuschheit wählten ohne einem Orden anzugehören. In der Forschung existieren vielfältige Theorien über die Motivation hinter dieser Bewegung, die die Beginen jedoch häufig ideologisch vereinnahmen (wie etwa der Marxismus oder der Feminismus) oder den Blick auf sie zeitgeschichtlich überformen. Bei (kirchen-) geschichtlichen Untersuchungen zu den Beginen treten zahlreiche Schwierigkeiten auf, die eine Einordnung der Beginen in Kirche und Gesellschaft erschweren. Zunächst herrscht Unklarheit über die Entstehung. Verschiedene Gründerthesen und -legenden erwiesen sich als nicht haltbar, ebenso erscheinen Theorien über ein plötzliches Auftauchen oder gar eine Einordnung als frühe Emanzipationsbewegung als fragwürdig. Des weiteren ist die Bezeichnung für die Gemeinschaften in den Quellen sehr uneinheitlich, gerade in den Anfängen ist meist nur von „religiösen Frauen“ die Rede. Auch der Ursprung des Begriffes „Begine“ gab Anlass zu zahlreichen Theorien, die letztlich ergeben, dass diese Frage wohl nicht befriedigend und definitiv geklärt werden kann. Unter Berücksichtigung dieser Unsicherheiten und der Tatsache, dass es sich um eine heterogene Bewegung handelte, die regionale Ausprägungen hatte, zeigen sich doch einheitliche Charakterzüge des Beginenwesens und ihre Bedeutung für Kirche und Gesellschaft des 13. Jahrhunderts.

Der Beginenhof in Brügge, einer der größten und mit dem Status einer Pfarrei.

Die Entstehungszeit lässt sich nur sehr vage angeben. Beim Zweiten Laterankonzil 1139 werden Frauen erwähnt, „die zwar nicht nach der Regel des seligen Benedikt, Basilius oder des Augustinus leben, jedoch allgemein als Nonnen anerkannt werden möchten“. Trotz der Ähnlichkeit der Lebensform lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob damit schon Beginen gemeint sind, denn weitere Ausführungen oder Beschreibungen dazu fehlen. Die ersten Informationen aus der Hand eines Augenzeugen liefert Jakob von Vitry (gest. 1240), der ein Fürsprecher und Unterstützer der neuartigen Bewegung war. Anlässlich seiner Weihe zum Bischof von Lüttich durch Papst Honorius III. im Jahr 1216 erwirkte er bei diesem das Privileg „für die frommen Frauen im Bistum Lüttich und in ganz Frankreich, in Gemeinschaftshäusern zu wohnen und sich einander durch gegenseitige Ermahnungen im rechten Tun zu bestärken“. Leider wurde diese Erlaubnis nur mündlich erteilt, der einzige Nachweis ist Jakobs Brief an seine Freunde vom Oktober 1216. Sie zeigt aber, dass es von Seiten des Papstes zu der Zeit keine wesentlichen Bedenken gegen diese Lebensform gab und die Beginen auch nicht unter das Verbot von Ordensneugründungen von 1215 fielen. Einen weiteren sicheren Hinweis auf die Entstehung des Beginenwesens am Anfang des 13. Jahrhundert liefert die Stiftung eines Grundstücks an die Beginen in Tirlemont im Herzogtum Brabant 1202. Das Herzogtum und die Grafschaft Flandern scheinen der Ausgangspunkt der Bewegung gewesen zu sein, die sich rasch verbreitete. Für das Deutsche Reich ist eine gleichmäßige Ausbreitung von Beginenkonventen zu verzeichnen, die zwischen 1250 und 1350 ihre Blütezeit hatten. Trotz der anfänglichen Unterstützung und ihrer Nähe zu den anerkannten Bettelorden schwankte die weitere Geschichte der Beginen – je nach Region oder Stadt und je nach dem Wohlwollen des jeweiligen Bischofs, Stadtherrn oder anderer Fürsprecher und Gegner – zwischen Anerkennung und Ablehnung bis hin zum Häresie-Verdacht. Prominentestes Opfer der Inquisition ist die französische Begine Marguerite Porète, die 1310 hingerichtet wurde, allerdings nicht wegen ihres Beginenstatus, sondern aufgrund ihrer Schrift Der Spiegel der einfachen Seelen. Doch ihre Verurteilung strahlte auch auf die Beginen insgesamt aus, die pauschal in Häresie-Verdacht gerieten. Dies führte in der Folgezeit zur Auflösung vieler Beginenkonvente, die sich meist den regulierten Orden oder Drittorden anschlossen. Im Gefolge der Reformation verschwanden sie – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – aus dem Bild der Geschichte.

Maria mit dem Kinde im Beginenhof in Brügge.

Das Anstoß Erregende am Beginentum war deren Lebensweise, die nicht in den Ordo der Kirche zu passen schien, „[d]enn sie versprechen niemandem Gehorsam, entsagen nicht des Besitzes und bekennen sich zu keiner approbierten Regel. Gleichwohl tragen sie den sogenannten Beginenhabit und hangen irgendwelchen Religiosen an, zu denen sie sich innerlich hingezogen fühlen.“ Sie gehörten keinem Orden an – die geistliche Betreuung übernahmen in der Regel die Franziskaner und Dominikaner – und lebten doch ordensähnlich in Armut und Keuschheit, in Gemeinschaften unterschiedlicher Größe mit je eigenen Hausregeln. Es gab einzeln lebende religiöse Frauen, sowie Frauen, die in Privathäusern mit einer festen Organisation als Gemeinschaft in der Gesellschaft lebten, schließlich „klausurierte“ Beginen, die abgesondert von der Welt in größeren Beginenhöfen – vor allem in Flandern und Brabant – wohnten, die mitunter auch den Status einer Pfarrei erlangen konnten. Die Konvente hatten keine übergeordnete Einheit, die eine Regulierung oder Aufsicht übernommen hätte oder als „Interessenvertretung“ hätte fungieren können. So gaben sich die Konvente eigene Hausstatuten, die zwar die Interessen des oder der jeweiligen Gründer(in) widerspiegeln, aber doch einen gemeinsamen Kern hatten: Die Nachfolge Christi im Dienst an den Armen, Bedürftigen, Kranken und Sterbenden und durch ein Leben in Keuschheit und Armut, sowie durch Übungen wie Gebet, Fasten oder Almosengeben. Darin waren die Beginen freier und flexibler als die klausurierten Nonnen in einem Kloster und lebten daher ihr religiöses Leben in der Gesellschaft. Bemerkenswert ist, dass der Großteil der Beginen aus begütertem oder adligem Hause kam und wohl bewusst auf den Reichtum und das Ansehen verzichtete, die „als unvereinbar mit dem Geist des Evangeliums und dem Willen Gottes“ betrachtet wurden. Das Vermögen, das diese Frauen in die Gemeinschaft einbrachten, bildete eine Säule des wirtschaftlichen Unterhalts des Konventes, neben den meist handwerklichen und pflegerischen Tätigkeiten der Beginen und den Stiftungen und Zuwendungen der Gönner(innen).

Die Beginen lebten also eine Form religiöser Überzeugung, die auf der einen Seite den anerkannten Bettelorden und der Büßerbewegung sehr nahe stand und für die sozialen und wirtschaftlichen Belange einer Stadt von Wichtigkeit waren, aber auf der anderen Seite doch nicht in das Gefüge der kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnung des 13. Jahrhunderts passte. Die Frauen brachen bewusst aus diesen Ordnungen aus, was entweder Bewunderung oder Ablehnung hervorrief. Ins Fadenkreuz der kirchlichen Obrigkeit gerieten auch die Beginen, die sich anmaßten, in ihrer Volkssprache über Glaubensfragen zu schreiben, wie Mechthild das tat, oder die in volkssprachlichen Bibeln lasen. Stellte diese Anmaßung doch einen mehrfachen Frevel dar: Ein Laie, noch dazu eine Frau, offenbart Gottes Wort in der profanen Sprache, ohne in die kirchliche Ordnung eingebunden zu sein. Man mag es – aus der Sicht einer emanzipierten Frau des 21. Jahrhunderts – als späte Genugtuung sehen, dass gerade diese volkssprachlichen Texte die jeweiligen Sprachen entscheidend mitgeprägt haben.

Beginen gibt es auch heute noch bzw. wieder: https://www.dachverband-der-beginen.de/startseite

Literatur:

Reichstein, Frank-Michael, Das Beginenwesen in Deutschland. Studien und Katalog,
Berlin 2001.

Grundmann, Herbert, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der Deutschen Mystik (Historische Studien, Heft 267), Berlin 1935.

Unger, Helga, Die Beginen. Eine Geschichte von Aufbruch und Unterdrückung der Frauen (Herder-Spektrum 5643), Freiburg 2005.

Dein Wille geschehe

„Dein Wille geschehe“ (Ainsi soient-ils, 2012 – 2015) ist eine französische Serie, die in drei Staffeln mit je acht Folgen das Leben fünf junger Männer in einem (fiktionalen) Priesterseminar, ihren Weg zur Entscheidung und ihre Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und der Kirche zum Thema hat. Wenn man großzügig über einige inhaltliche Mängel – die zum Teil auch der deutschen Übersetzung geschuldet sind – hinwegsieht, zeigt die Serie die ganze Bandbreite dessen, was Kirche sein kann und welche Herausforderungen es für jeden Christen und speziell für angehende Priester ist, den Glauben authentisch, überzeugend und mit einem inneren Gleichgewicht zu leben und zu verkünden. Die Schwäche, die „Dein Wille geschehe“ zweifellos hat, nämlich viele Themen aufzunehmen, sie aber meistens nur anzureißen und nicht zu Ende zu führen, ist gleichzeitig auch ihre Stärke. Sie hinterlässt den Zuschauer mit vielen Fragen, die zum eigenen Nachdenken und Hinterfragen der eigenen Position anregen. Das zentrale Thema ist die Entscheidung, eine Thema mit dem nicht nur Priesteramtsanwärter konfrontiert sind, sondern jede und jeder von uns, in allen Lebensphasen.

Die fünf jungen Männer, die Priester werden wollen, stehen prototypisch für die vielen Wege, die zu Gott führen – oder auch von ihm weg: Yann, der aus gut katholischem Elternhaus stammt, Pfadfinder ist, auf einer katholischen Schule war und dessen Weg vorgezeichnet scheint. Guillaume, ehemaliger Sozialarbeiter, homosexuell, mit einem guten Herz, aber wenig Mut zur Entscheidung. Raphaël, aus reichem Elternhaus, hat die vorgezeichnete Karriere im väterlichen Konzern ausgeschlagen und wäre bei den Karmelitern eigentlich am glücklichsten und landet dann doch im Zentrum der Macht, in Rom. Emmanuel, erfolgreicher Archäologe, homosexuell, verzweifelt fast an den Zwiespältigkeiten seines Lebens bis er sich endlich entscheidet, das Seminar zu verlassen. José saß acht Jahre wegen eines Mordes im Gefängnis, hat kurz nach dem Mord zum ersten Mal Gott gespürt und beschäftigt sich seitdem intensiv mit der Bibel und anderen Schriften, neigt aber immer wieder zu Extremen und alten Verhaltensmustern.

Die aus meiner Sicht stärksten Figuren sind Yann und José, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Yann, der Jüngste der fünf, ist am Anfang noch reichlich idealistisch und naiv, die Konfrontation mit dem „wirklichen“ Leben – in Gestalt einer jungen Frau oder fragwürdigen Aktionen seiner Kollegen – bereitet ihm anfangs großes Unbehagen. Aber er stellt sich den Auseinandersetzungen, seinen Zweifeln und seinen Gefühlen, er bezieht Position. Er stellt fest „meine Entscheidung war gar keine Entscheidung“, weil sein Weg von Anfang an vorgezeichnet war. Seine Stärke ist es, sich im Laufe der Zeit im Seminar wirklich zu entscheiden, erwachsen zu werden, auch im Glauben. Yann hat ein gutes Gespür für die Menschen und ist hilfsbereit, lernt aber auch hier Grenzen zu setzen.

José, aus schwierigen Familienverhältnissen stammend, wird zu Anfang der Serie aus dem Gefängnis entlassen und bewirbt sich bei verschiedenen Seminaren, wird aber überall abgelehnt. Nur der Prior Etienne Fromanger des renommierten Pariser Kapuzinerseminars sieht in ihm einen geeigneten Kandidaten und nimmt ihn an. Seine Herkunft und seine Schuldgefühle wegen seiner Vergangenheit machen es ihm nicht leicht, sich zu integrieren. José liest viel und redet wenig, aber wenn er redet, hat es Substanz. Er setzt sich vehement für andere Menschen und die Gerechtigkeit ein, schießt damit allerdings immer wieder über das Ziel hinaus. Er findet im Laufe der Serie immer mehr zu seiner Mitte und eine Balance zwischen seinem fast zwanghaften Drang nach Wiedergutmachung für seine Tat und der Seelsorge für die Menschen. José schafft es, seine Vergangenheit und seine Schuld anzunehmen und gewinnt daraus die Stärke für sein Priesteramt.

Dagegen bleiben Guillaume und Raphaël als Figuren blass. Eine Entscheidung ist bei Guillaume nicht zu erkennen, er schwimmt immer im Strom, zumindest nach außen, führt aber am Ende ein Doppelleben als Priester in einer homosexuellen Beziehung mit Emmanuel. Er wird aber weder der Beziehung noch seinem Priesteramt gerecht, ist im Grunde unglücklich, hat aber nicht den Mut, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Ähnlich ergeht es Raphaël, der letztlich das tut, was von ihm verlangt wird und der sich in die Machtspiele und Intrigen bei der französischen Bischofskonferenz hineinziehen lässt. Er, der mit diesen weltlichen Mechanismen von Macht und Geld gerade nichts mehr zu tun haben wollte und am liebsten zu den Karmelitern – einem klausurierten Orden – gegangen wäre, bleibt gehorsam und folgt nicht seinem Herzen.

Die Serie nimmt auch die Kirche als Ganzes kritisch in den Blick, wertfrei, aber wohl realistisch. Die Arbeit in der französischen Bischofskonferenz ist geprägt von Finanzschwierigkeiten, Intrigen, Machtspielchen, Profilierungssucht. Auch der alternde Papst ist nur ein Spielball zwischen den konservativen und progressiven Kräften in der Kurie. Yann deckt an seiner ersten Pfarrstelle den sexuellen Missbrauch an Kindern auf und ist fassungslos, dass nach seiner Mitteilung an seinen Vorgesetzten lange nichts unternommen wird, um aufzuklären und die Kinder zu schützen. Die jungen Priester müssen sich in der dritten Staffel mit desillusionierten Pfarrern auseinandersetzen, die den Bezug zu ihrer Gemeinde längst verloren haben.

Wer in der katholischen Kirche engagiert ist, wird sich in vielem, das in der Serie an- und ausgesprochen wird, wiederfinden. Wohin wird die Kirche gehen? Etienne Fromanger, der Prior des Seminars erkennt es sehr deutlich: „ Die Welt ändert sich. Wenn wir sie nicht mehr verstehen, werden wir uns auflösen.“

„Dein Wille geschehe“, bis 14. Juni 2021 in der arte Mediathek.

https://www.arte.tv/de/videos/RC-019561/dein-wille-geschehe/

Ein Tag, der sich ins Gedächtnis brannte

22. Juli 2016, 17:54 Uhr – wohl jeder Münchner weiß fast minutiös, was er zu diesem Zeitpunkt und in den Stunden danach getan hat. Oder nicht mehr tun konnte, weil er irgendwo festsaß. Die Gefühle und Gedanken sind auch ein Jahr später präsent. Ein Jahr schon!

Ich war heute im OEZ und habe gearbeitet, weil ich für einen Kollegen eingesprungen bin. So wie vor einem Jahr eine Kollegin für mich eingesprungen ist, weil ich zur Beerdigung meines Onkels wollte. Ich war auf dem Heimweg und saß in der Bahn, freute mich auf einen ruhigen Abend bei einem Glas Wein, an dem ich den ausführlichen Text, in dem mein Onkel seine Gedanken zum Fortgang der Welt aufgeschrieben hatte, lesen und so seiner gedenken wollte. Doch die Eilmeldung, die auf meinem IPhone auftauchte, verdrängte jeden Gedanken an meinen Onkel. Jetzt war ich in panischer Sorge um meine Kollegin, die ersten Freunde fragten schon, ob es mir gut geht (nebenbei bemerkt, war die erste, die sich meldete, meine Freundin in Kanada). Endlich hatte ich meine Kollegin erreicht, es ging ihr den Umständen entsprechend gut, sie saß aber mit allen anderen Mitarbeitern des Karstadt fest, streng bewacht. Meine Gedanken und Gefühle waren ein einziges Chaos. Kurzentschlossen stieg ich eine Station früher aus, weil es da schon hieß, dass der ÖPNV eingestellt wird. Ich lief so schnell es ging von der Station nach Hause und war noch nie in meinem Leben so froh, die Wohnungstür hinter mir zuzumachen.

Ein Jahr später bin ich mit demselben mulmigen Gefühl ins OEZ geradelt wie in den Tagen nach dem 22. Juli 2016. Als ich die Menschen sah, die bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt waren, kamen mir die Tränen. Auch wenn das egoistisch klingt – ich war dankbar, nur mittelbar betroffen zu sein. Wenn für mich der Tag schon nicht ganz einfach ist, wie muss es erst Menschen gehen, die einen Sohn, eine Tochter, die Ehefrau, die Mutter verloren haben oder alles mitansehen mussten? Aber wie schon vor einem Jahr hatte ich heute wieder das Gefühl, dass die Menschen besonders aufmerksam miteinander umgehen, meine Kunden waren ausgesprochen freundlich. Trotzdem war dieser Tag surreal – es war ein normaler Samstag im OEZ, mit dem üblichen Trubel und doch war es kein normaler Tag, weil es vor einem Jahr auch keiner war.

Vor dem Haupteingang steht jetzt ein Kunstwerk in Gedenken an die Opfer. Es ist ein mannshoher Ring, der mit neun „Diamanten“ besetzt ist, die die Portraits der Getöteten enthalten. Dieser Ring umschließt einen Gingkobaum, ein Symbol des Lebens. Nach langem Überlegen habe ich mich entschlossen hinzugehen. Es ist ein würdiger Gedenkort, der vielen Trauernden wichtig ist. (Über die, denen es das wichtigste ist, auf dem Selfie vor dem Ring gut auszusehen, rege ich mich jetzt nicht mehr auf, das ist es nicht wert.) Bemerkenswert finde ich die Inschrift auf dem Ring: „In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs des 22. Juli 2016.“ Ich weiß nicht, ob es Absicht ist, aber nicht nur die Toten sind Opfer, mindestens genauso deren Angehörige und Freunde und alle die, die alles mitansehen mussten, geholfen haben und bis heute die Bilder und Geräusche nicht loswerden. Und, man erlaube mir diese unpopuläre Meinung, auch der Täter war ein Opfer – nicht des Amoklaufs, sondern dessen, was ihn dazu getrieben hat. Nach allem, was man weiß, hatte er von klein auf massive psychische Probleme, die durch das Mobbing an der Schule zum Hass wurden, der bei ihm jegliche Gefühle und Instinkte ausschaltete. Wie sonst kann jemand eine solche Tat über ein Jahr vorbereiten, ohne jemals Skrupel zu bekommen? Er war offensichtlich in seinem Hass so gefangen, dass alles, was sonst wichtig ist, nicht mehr zählt und ihn von seiner Tat abhält. Ich will ihn damit nicht entschuldigen und seine Tat relativieren, aber wer sich auch nur ein wenig mit Depressionen oder ähnlichen psychischen Erkrankungen beschäftigt – oder sich beschäftigen musste, weil ein Angehöriger oder Freund betroffen war/ist – weiß, dass die üblichen Mechanismen bei einem solchen Menschen nicht mehr ansprechen.

Meine Gedanken waren heute auch bei den Eltern des Täters. Sie haben auch ein Kind verloren und müssen zusätzlich mit der Last leben, dass ihr Kind neun Menschen und sich selbst getötet hat. Sie werden wohl nie eine Antwort darauf bekommen, ob sie die Tat hätten verhindern können, ob sie mehr auf Anzeichen hätten achten sollen usw. Die eigene Schuld wird ihnen vermutlich ein Leben lang bleiben. Als ob das nicht reichen würde, wurden sie wegen massiver Bedrohungen in das Opferschutzprogramm genommen und leben jetzt irgendwo, anonym. Auch wenn es zu keiner Verurteilung des Täters mehr kommen kann, büßen seine Eltern mehr als das Strafrecht hergeben würde.

Dieser Text ist wohl Teil meiner eigenen Verarbeitung des Geschehenen. Jeder hat seine eigene Weise so etwas zu verarbeiten, mir war es wichtig, mich genau mit den Hintergründen zu beschäftigen, es irgendwie zu verstehen. Geholfen haben mir einige gute Gespräche, in denen ich einfach erzählen durfte, was mich bewegt, welche Informationen ich hatte, wie ich damit umgehe. Ich bin allen, die mir zugehört haben sehr dankbar. Auf die Frage „Warum?“ wird es wohl nie eine abschließende Antwort geben, aber ich hoffe, dass das bleibt, was wir am 22. Juli 2016 auch erlebt haben – eine große Hilfsbereitschaft und ein Zusammenhalt, die wir Menschen auch im alltäglichen Leben, ohne Großschadensereignis, viel öfter praktizieren sollten. Und den Trauernden kann ich nur sagen: Schämt euch nicht eurer Tränen! Weint, wenn die Gefühle zuviel werden, so wie die jungen Männer heute an der Gedenkstätte. Es wird eurer Seele guttun.

Trauer

Trauer ist eigentlich ein normales, ja wichtiges, Gefühl. Trotzdem ist es fast ein Tabu-Thema, über das in der Öffentlichkeit kaum gesprochen wird, selbst unter Freunden weiß man häufig nicht, wie man mit Trauernden umgehen soll. Einen ergreifenden Einblick in die Seele eines Trauernden gibt Bernhard von Clairvaux, ein Zisterzienser und Mystiker, der von 1090-1153 lebte. Eines seiner bedeutendsten Werke sind seine Predigten zum Hohen Lied. Seine 26. Predigt fängt er an, ganz normal, doch dann überkommt ihn die Trauer um seinen kürzlich verstorbenen Bruder und engen Weggefährten Gerhard. „Die Trauer aber und das Elend, das ich leide, gebieten ein Ende.“ Er kann nicht mehr, die Trauer um seinen geliebten Bruder ist mächtiger als die Worte der Bibel. „Was soll mir dieses Lied in meiner Bitterkeit? Die Gewalt des Schmerzes lenkt meine Gedanken ab. […] Aber ich habe meiner Seele Gewalt angetan und meinen Schmerz bis zum heutigen Tag nicht gezeigt, damit nicht mein Gefühl stärker erscheine als mein Glaube.“ Ein so stark im Glauben verwurzelter Mensch, der mit großem Eifer für die Sache Gottes kämpft, ist von der Trauer überwältigt? Bernhard meint hier einen Widerspruch zu erkennen. Ist sein Bruder jetzt nicht im Paradies, in der himmlischen Vollendung? „Der unterdrückte Schmerz dagegen schlug im Inneren immer tiefere Wurzeln und wurde, wie ich spüre, dadurch immer bitterer, daß es ihm nicht erlaubt wurde, nach außen zu dringen. Ich gestehe, ich bin besiegt. So dringe, weil es nicht anders sein kann, nach außen, was ich im Herzen leide.“

TRAUERDie Psychologie war zu Bernhards Zeiten als Wissenschaft noch nicht erfunden, aber besser als er kann es auch kein Psychologe ausdrücken. Trauer muss gelebt werden, muss zugelassen werden, muss ausgehalten werden – vom Trauernden und denen, die mit ihm zu tun haben. Wenn sie nicht nach außen dringen darf, wird sie zum Geschwür – im metaphorischen oder wörtlichen Sinn. Wie Trauer gelebt wird, ist dabei sehr individuell. In der Wissenschaft werden vier Phasen der Trauer unterschieden: 1) Leugnen, Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2) Intensive aufbrechende Emotionen, 3) Suchen, Finden, Loslassen, 4) Akzeptanz und Neuanfang. Natürlich ist das nur ein grobes Schema und kann individuell unterschiedlich verlaufen, aber es ist selbst in Bernhards Predigt zu erkennen. Auch er kann zunächst nicht trauern, er tut das, was er als Mönch für seinen Bruder tun kann. „Während die anderen klagten, bin ich, wie ihr bemerken konntet, mit trockenen Augen dem bitteren Leichenzug gefolgt und mit trockenen Augen beim Grab gestanden, bis alle Begräbniszeremonien beendet waren. Bekleidet mit den priesterlichen Gewändern habe ich mit meinem Mund die vorgeschriebenen Gebete für ihn beendet, mit meinen Händen habe ich nach der Sitte Erde über den Leichnam des geliebten Bruders geworfen, der bald selbst Erde sein wird.“ Wo war sein Herz bei alledem? Bernhard funktioniert, die Riten helfen ihm, das Unfassbare irgendwie greifbar zu machen.

Doch dann trifft ihn der Verlust mit voller Wucht. „Bei allem, was mir entgegentritt, blicke ich, wie ich es gewohnt war, auf Gerhard und er ist nicht da.“ Er hat Fragen über Fragen. Wie soll das Leben und das gemeinsame Werk ohne Gerhard weitergehen? Alle diese Fragen gehen über in die Erinnerung, voller Liebe und Dankbarkeit. „Welch umsichtiger Mann, welch getreuer Freund! […] Wer ging von ihm mit leeren Händen weg? Wenn einer reich war, nahm er einen Rat mit sich, wenn einer arm war, erlangte er Hilfe. […] Dank sei dir, mein Bruder, für jede Frucht meiner Bestrebungen im Herrn, sollte ich je eine erlangt haben. […] Warum hätte ich denn im Inneren nicht ruhig sein sollen, da ich doch wußte, daß du draußen wirkst, meine rechte Hand, Licht meiner Augen, mein Herz und meine Zunge?“ Aber im Alltag und im geistlichen Leben des Abtes Bernhard fehlt ihm der Bruder sehr. „Alles, woran ich mein Wohlgefallen und meine Freude hatte, ist zugleich mit dir geschwunden. […] Dich zu überleben, welche Mühe, welcher Schmerz!“ Solche Ausbrüche des übermächtigen Schmerzes wechseln sich ab mit Dankbarkeit, Gerhard gehabt zu haben. Die Phasen der Trauer sind nicht linear und können nicht „abgearbeitet“ werden. Sie kommen in Wellen, die Trauer ist mal größer, mal kleiner. „Brecht hervor, ihr Tränen, brecht hervor, denn schon lange begehrt ihr hervorzubrechen.“ Jedes Gefühl hat seine Berechtigung, auch Lachen ist nicht verboten – ganz im Gegenteil. „Ich fühle, ich bin verwundet, und die Wunde ist tief.“

In der Phase der Akzeptanz und des Neuanfangs ist Bernhard noch nicht angekommen, aber sein Glaube hilft ihm, dankbar zu sein für das Geschenk, das sein Bruder ihm war. „Die Freude des Geliebten mag die Trauer des Verlassenen mäßigen, und der Gedanke, daß er bei Gott ist, soll es uns erträglicher machen, daß er nicht bei uns ist.“ (27. Predigt) Und was bleibt für die Freunde, Kollegen usw. des Trauernden zu tun? „Wer vom Geist erfüllt ist, möge im Geist der Sanftmut dem Klagenden beistehen. Meine Trauer soll bitte mit menschlichem Mitgefühl und nicht mit Erwägungen der Nützlichkeit beantwortet werden.“ Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Trauer muss gelebt und ausgehalten werden, vom Trauernden und von denen, die mit ihm zu tun haben. Nur dann kann der Tod eines Menschen als Teil des Lebens akzeptiert und in das eigene Leben integriert werden. Das Leben geht weiter, ja natürlich, aber ganz anders. Dieses „anders“ will vom Trauernden gefunden werden.

Ich wünsche allen, die den Tod eines geliebten Menschen beklagen, Mut zur Trauer und Menschen an eurer Seite, die eure Trauer mittragen. Möge sich eure Trauer, wie Psalm 30 sagt, in Tanzen verwandeln.

Über das Leben

Seit Wochen schwanken meine Gefühle im Minutentakt hin und her zwischen Hochgefühl und Vorfreude auf der einen Seite und Traurigkeit und Mitgefühl auf der anderen Seite. Heute vermischen sich beide Gefühle zu einem und lassen keinen Gedanken an die Diplomarbeit zu, an der ich eigentlich arbeiten sollte. Aber indem ich hier schreibe, fließt das Thema doch mit ein.

Kann man glücklich-erfüllt und traurig gleichzeitig sein? Man kann. Ich vermute, es liegt nicht nur daran, dass ich ein Freund von Paradoxien geworden bin.

Gestern war ich mit einem engen Freund in der „Zauberflöte“ im Prinzregententheater. Ich war zum ersten Mal in diesem schönen Theater und durfte eine tolle Inszenierung mit schönen Kostümen auf dem allerbesten Sitzplatz bewundern. Und das mit Karten, die ich geschenkt bekam. Obendrauf – und der eigentliche Grund, warum ich unbedingt hin wollte – sang Tareq Nazmi den Sarastro. Er ist mit einer Stimme gesegnet, die mich fasziniert und die eine einzigartige Wirkung auf mich hat: sie verleiht mir einen großen inneren Frieden. „Nebenbei“ ist er, wie ich es gestern erfahren durfte, als ich mir am Bühneneingang ein Autogramm von ihm geben ließ, ein sehr sympathischer Mensch. Ich freue mich jetzt schon, dass er an Heilig Abend wieder bei uns und mit uns in unserer Kirche singen wird.

Nun habe ich gerade erfahren, dass die Mutter meines Freundes heute gestorben ist. Es kam nicht überraschend und doch ist es ein schmerzlicher Moment, trotz allem Vorbereiten und liebevollem Abschiednehmen. Er muss von einem geliebten Menschen Abschied nehmen und das tut auch mir weh. Zu helfen ist schwer. Dasein, Zuhören oder gemeinsam schweigen ist das, was man als Außenstehender tun kann. Das Gefühl, dass es nicht genug ist, bleibt.

Es fällt schwer, in solchen Momenten nicht zu sagen „so ist das Leben halt“. Aber so ist das Leben. Licht und Finsternis wechseln sich ab, Freude und Leid reichen einander die Hand. Die Kunst des Lebens besteht darin, beides ins Leben zu integrieren, einen Sinn darin zu erkennen, in dem, was geschieht. Es mag als Plattitüde klingen, aber ich sehe in solchen Momenten den Sinn darin, dankbar zu sein für das, was man hat, was einem Gutes widerfährt. Ein schöner Herbsttag, liebe Freunde, eine Familie, auf die man zählen kann. Dankbarkeit für die Gaben, die uns geschenkt sind. In meinem Fall bin ich gerade dankbar, dass es mir vegönnt ist, mich ein halbes Jahr mit einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt, intensiv zu beschäftigen. Ein großes Privileg! Ich bin auch dankbar für die Musik und für die Menschen, die viel Zeit, Energie und Herzblut in sie investieren. Angefangen bei unserem engagierten Chorleiter bis zu den Sängern und Musikern gestern.

Hier schließt sich der Kreis. Die Mutter meines Freundes war selbst Musikerin und ihr hätte die „Zauberflöte“ bestimmt gefallen. Wir werden beide diese Oper in Zukunft mit anderen Augen sehen und anderen Ohren hören, aber im Moment kann ich mir kein besseres Andenken an sie vorstellen. Zwei Ereignisse, die gefühlsmäßig kaum weiter auseinander liegen könnten und zeitlich nur wenige Stunden voneinander getrennt sind, werden eine Einheit.