Frieden oder Freiheit?

Diese Frage stellte neulich jemand auf Twitter. Wenn ihr euch nur für Frieden oder nur für Freiheit entscheiden müsstet, was würdet ihr wählen? Ich hab darauf geantwortet, dass ich das nicht entscheiden kann, weil beides voneinander abhängt, dass es Frieden ohne Freiheit nicht gibt und Freiheit nicht ohne Frieden. Diese Frage lässt mich nicht mehr los. Ihr dürft mir beim Nachdenken zuschauen bzw. mitlesen …

Ich denke, zuerst muss man bei dieser Diskussion definieren, was man unter Freiheit und Frieden versteht. Beides ist für mich sehr vielschichtig, das sich gar nicht so einfach definieren lässt. Ich versuche es. Dem sei vorausgeschickt, dass mir natürlich klar ist, dass es die absolute Freiheit und den absoluten Frieden auf Erden, in dieser Welt nicht gibt.

Absolut frei ist für mich nur Gott, der sich frei – ohne Restriktionen durch Erziehung, Gesellschaft, Moral oder Instinkte – entscheiden kann. So ist meine Definition von Gottes Allmacht. Frieden in seiner absoluten Form verstehe ich wie den hebräischen Shalom, der mehr meint als die Abwesenheit von Krieg. Das hebräische Wörterbuch, „der Gesenius“, führt viele Definitionen für Shalom auf, eine ist mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben: Ein Zustand, der keine Wünsche mehr offen lässt. Das war immer Gottes Auftrag an die israelitischen Könige, sie sollten für „Recht und Gerechtigkeit“ sorgen. Wie gut das geklappt hat kann man in der Bibel nachlesen (Spoiler: Gott war meistens nicht so richtig begeistert über die Ausführung seines Auftrags). In diesem Sinn halte ich Frieden für eine Utopie, wenn auch als Ziel erstrebenswert.

Wir Menschen sind Begrenzungen unterworfen, von denen wir uns nicht oder nur wenig befreien können. Instinkte, die für unsere Urahnen lebensnotwendig waren, beeinflussen – meist unbewusst – unsere Entscheidungen. Unsere Sozialisation und Erziehung setzen einen Rahmen, in dem wir uns bewegen, ethische und moralische Vorstellungen unserer Gesellschaft prägen unser Denken und Handeln, Gesetze und Verordnungen reglementieren unser Zusammenleben. (Immer öfter hege ich sogar Zweifel, ob der Mensch überhaupt einen wirklich freien Willen hat oder ob das nur eine Idee ist, die wir uns ausgedacht haben, um uns von den Tieren abzuheben. Aber das nur nebenbei, vorerst gehe ich davon aus, dass wir diesen freien Willen haben und folglich in Freiheit leben können.)

Insofern gehe ich von Frieden und Freiheit aus, wie sie uns Menschen mit all unseren Restriktionen möglich sind bzw. möglich sein können.

Für mich ist Freiheit zunächst das Leben ohne äußeren Zwang, dass ich mein Leben gestalten kann, wie ich es möchte, wie es in den Grundrechten festgelegt ist. Als Mensch geachtet zu sein, unabhängig von meiner Herkunft, Weltanschauung, Religion, Bildungsstand, Familienstand etc. Freiheit ist es auch, eine eigene Meinung zu haben und diese äußern zu dürfen. Die finanzielle Unabhängigkeit ist für mich ein Pfeiler, auf dem meine persönliche Freiheit steht. Als Gesellschaft sind wir frei, wenn wir freie Wahlen haben oder mit Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sein dürfen, ohne eine Verhaftung fürchten zu müssen. Wir sind frei, wenn wir offen über unterschiedliche Meinungen diskutieren können. Eine Gesellschaft ist frei, wenn die Mehrheiten die Minderheiten schützen und ihnen den ihnen zustehenden Raum geben. Unbedingter Respekt voreinander ermöglicht Freiheit.

Frieden zwischen Staaten haben wir in Westeuropa seit fast 80 Jahren, einen Frieden, der mehr ist, als die Abwesenheit von Krieg. Völker haben eine jahrhundertelange „Erbfeindschaft“, die unauflöslich schien, beendet und arbeiteten an einem vereinten Europa, das wirtschaftlich weitgehend prosperierte und Freiheit auf vielen Ebenen brachte. Ich halte es für ein großes Privileg, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. Wie fragil so ein Frieden ist, wie sehr darum gekämpft werden muss, erleb(t)en wir immer wieder, in Europa und in der Welt.

Auch der Frieden im Kleinen, in unserem alltäglichen Leben, ist eine Herausforderung. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, die Meinung eines Anderen fordert uns heraus, der Chef verlangt Unmögliches, die Kinder hören nicht zu – wir alle kennen das in der einen oder anderen Form.

Man könnte auch sagen, die Freiheit des anderen stört den Frieden. Seine oder ihre Freiheit trifft auf meine Freiheit, aber die Schnittmenge ist klein. Schon steht der Frieden auf wackeligen Beinen. Idealerweise – und meistens – finden zwei Menschen eine Lösung, die Schnittmenge ihrer Freiheiten zu vergrößern und damit friedvoll miteinander umzugehen. Aber wenn das nicht zustande kommt, ist der Frieden bedroht. Die persönliche Freiheit des Einzelnen birgt immer die Gefahr des Unfriedens, aber gleichzeitig ist sie auch die Möglichkeit zum Frieden, wenn wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten.

Ein Frieden ohne Freiheit ist nur ein Scheinfrieden, der Differenzen negiert und die Menschen unterdrückt. Beispiele in der Weltgeschichte gab und gibt es genug. Irgendwann platzt diese Blase des vermeintlichen Friedens und die Freiheit bricht sich Bahn.

Und Freiheit ohne Frieden, geht das? Sind zum Beispiel die Menschen in der Ukraine, die in „sicheren“ Städten leben, ganz normal ihrer Arbeit nachgehen und ihren Alltag leben, aber trotzdem ständig in Sorge um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen sind, wirklich frei? Ich würde mich wohl nicht frei fühlen, aber vielleicht sehen das die Menschen in der Ukraine anders. Wladimir Klitschko schreibt in einem Beitrag heute „The absolute good is not peace, but freedom and justice, and to defend them you must fight.“* Das absolute Gute ist nicht Frieden, sondern Freiheit und Gerechtigkeit, und um sie zu verteidigen, muss man kämpfen. Und er hat recht, Freiheit ist der Boden, auf dem Frieden gedeihen kann. Ja, Frieden und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sondern unsere höchsten Güter, um die wir uns jeden Tag bemühen müssen, im Kleinen wie im Großen.

* https://www.linkedin.com/pulse/ukraine-does-need-abstract-moral-sermons-concrete-klitschko?trk=public_profile_article_view

Ein Tag, der sich ins Gedächtnis brannte

22. Juli 2016, 17:54 Uhr – wohl jeder Münchner weiß fast minutiös, was er zu diesem Zeitpunkt und in den Stunden danach getan hat. Oder nicht mehr tun konnte, weil er irgendwo festsaß. Die Gefühle und Gedanken sind auch ein Jahr später präsent. Ein Jahr schon!

Ich war heute im OEZ und habe gearbeitet, weil ich für einen Kollegen eingesprungen bin. So wie vor einem Jahr eine Kollegin für mich eingesprungen ist, weil ich zur Beerdigung meines Onkels wollte. Ich war auf dem Heimweg und saß in der Bahn, freute mich auf einen ruhigen Abend bei einem Glas Wein, an dem ich den ausführlichen Text, in dem mein Onkel seine Gedanken zum Fortgang der Welt aufgeschrieben hatte, lesen und so seiner gedenken wollte. Doch die Eilmeldung, die auf meinem IPhone auftauchte, verdrängte jeden Gedanken an meinen Onkel. Jetzt war ich in panischer Sorge um meine Kollegin, die ersten Freunde fragten schon, ob es mir gut geht (nebenbei bemerkt, war die erste, die sich meldete, meine Freundin in Kanada). Endlich hatte ich meine Kollegin erreicht, es ging ihr den Umständen entsprechend gut, sie saß aber mit allen anderen Mitarbeitern des Karstadt fest, streng bewacht. Meine Gedanken und Gefühle waren ein einziges Chaos. Kurzentschlossen stieg ich eine Station früher aus, weil es da schon hieß, dass der ÖPNV eingestellt wird. Ich lief so schnell es ging von der Station nach Hause und war noch nie in meinem Leben so froh, die Wohnungstür hinter mir zuzumachen.

Ein Jahr später bin ich mit demselben mulmigen Gefühl ins OEZ geradelt wie in den Tagen nach dem 22. Juli 2016. Als ich die Menschen sah, die bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt waren, kamen mir die Tränen. Auch wenn das egoistisch klingt – ich war dankbar, nur mittelbar betroffen zu sein. Wenn für mich der Tag schon nicht ganz einfach ist, wie muss es erst Menschen gehen, die einen Sohn, eine Tochter, die Ehefrau, die Mutter verloren haben oder alles mitansehen mussten? Aber wie schon vor einem Jahr hatte ich heute wieder das Gefühl, dass die Menschen besonders aufmerksam miteinander umgehen, meine Kunden waren ausgesprochen freundlich. Trotzdem war dieser Tag surreal – es war ein normaler Samstag im OEZ, mit dem üblichen Trubel und doch war es kein normaler Tag, weil es vor einem Jahr auch keiner war.

Vor dem Haupteingang steht jetzt ein Kunstwerk in Gedenken an die Opfer. Es ist ein mannshoher Ring, der mit neun „Diamanten“ besetzt ist, die die Portraits der Getöteten enthalten. Dieser Ring umschließt einen Gingkobaum, ein Symbol des Lebens. Nach langem Überlegen habe ich mich entschlossen hinzugehen. Es ist ein würdiger Gedenkort, der vielen Trauernden wichtig ist. (Über die, denen es das wichtigste ist, auf dem Selfie vor dem Ring gut auszusehen, rege ich mich jetzt nicht mehr auf, das ist es nicht wert.) Bemerkenswert finde ich die Inschrift auf dem Ring: „In Erinnerung an alle Opfer des Amoklaufs des 22. Juli 2016.“ Ich weiß nicht, ob es Absicht ist, aber nicht nur die Toten sind Opfer, mindestens genauso deren Angehörige und Freunde und alle die, die alles mitansehen mussten, geholfen haben und bis heute die Bilder und Geräusche nicht loswerden. Und, man erlaube mir diese unpopuläre Meinung, auch der Täter war ein Opfer – nicht des Amoklaufs, sondern dessen, was ihn dazu getrieben hat. Nach allem, was man weiß, hatte er von klein auf massive psychische Probleme, die durch das Mobbing an der Schule zum Hass wurden, der bei ihm jegliche Gefühle und Instinkte ausschaltete. Wie sonst kann jemand eine solche Tat über ein Jahr vorbereiten, ohne jemals Skrupel zu bekommen? Er war offensichtlich in seinem Hass so gefangen, dass alles, was sonst wichtig ist, nicht mehr zählt und ihn von seiner Tat abhält. Ich will ihn damit nicht entschuldigen und seine Tat relativieren, aber wer sich auch nur ein wenig mit Depressionen oder ähnlichen psychischen Erkrankungen beschäftigt – oder sich beschäftigen musste, weil ein Angehöriger oder Freund betroffen war/ist – weiß, dass die üblichen Mechanismen bei einem solchen Menschen nicht mehr ansprechen.

Meine Gedanken waren heute auch bei den Eltern des Täters. Sie haben auch ein Kind verloren und müssen zusätzlich mit der Last leben, dass ihr Kind neun Menschen und sich selbst getötet hat. Sie werden wohl nie eine Antwort darauf bekommen, ob sie die Tat hätten verhindern können, ob sie mehr auf Anzeichen hätten achten sollen usw. Die eigene Schuld wird ihnen vermutlich ein Leben lang bleiben. Als ob das nicht reichen würde, wurden sie wegen massiver Bedrohungen in das Opferschutzprogramm genommen und leben jetzt irgendwo, anonym. Auch wenn es zu keiner Verurteilung des Täters mehr kommen kann, büßen seine Eltern mehr als das Strafrecht hergeben würde.

Dieser Text ist wohl Teil meiner eigenen Verarbeitung des Geschehenen. Jeder hat seine eigene Weise so etwas zu verarbeiten, mir war es wichtig, mich genau mit den Hintergründen zu beschäftigen, es irgendwie zu verstehen. Geholfen haben mir einige gute Gespräche, in denen ich einfach erzählen durfte, was mich bewegt, welche Informationen ich hatte, wie ich damit umgehe. Ich bin allen, die mir zugehört haben sehr dankbar. Auf die Frage „Warum?“ wird es wohl nie eine abschließende Antwort geben, aber ich hoffe, dass das bleibt, was wir am 22. Juli 2016 auch erlebt haben – eine große Hilfsbereitschaft und ein Zusammenhalt, die wir Menschen auch im alltäglichen Leben, ohne Großschadensereignis, viel öfter praktizieren sollten. Und den Trauernden kann ich nur sagen: Schämt euch nicht eurer Tränen! Weint, wenn die Gefühle zuviel werden, so wie die jungen Männer heute an der Gedenkstätte. Es wird eurer Seele guttun.

Trauer

Trauer ist eigentlich ein normales, ja wichtiges, Gefühl. Trotzdem ist es fast ein Tabu-Thema, über das in der Öffentlichkeit kaum gesprochen wird, selbst unter Freunden weiß man häufig nicht, wie man mit Trauernden umgehen soll. Einen ergreifenden Einblick in die Seele eines Trauernden gibt Bernhard von Clairvaux, ein Zisterzienser und Mystiker, der von 1090-1153 lebte. Eines seiner bedeutendsten Werke sind seine Predigten zum Hohen Lied. Seine 26. Predigt fängt er an, ganz normal, doch dann überkommt ihn die Trauer um seinen kürzlich verstorbenen Bruder und engen Weggefährten Gerhard. „Die Trauer aber und das Elend, das ich leide, gebieten ein Ende.“ Er kann nicht mehr, die Trauer um seinen geliebten Bruder ist mächtiger als die Worte der Bibel. „Was soll mir dieses Lied in meiner Bitterkeit? Die Gewalt des Schmerzes lenkt meine Gedanken ab. […] Aber ich habe meiner Seele Gewalt angetan und meinen Schmerz bis zum heutigen Tag nicht gezeigt, damit nicht mein Gefühl stärker erscheine als mein Glaube.“ Ein so stark im Glauben verwurzelter Mensch, der mit großem Eifer für die Sache Gottes kämpft, ist von der Trauer überwältigt? Bernhard meint hier einen Widerspruch zu erkennen. Ist sein Bruder jetzt nicht im Paradies, in der himmlischen Vollendung? „Der unterdrückte Schmerz dagegen schlug im Inneren immer tiefere Wurzeln und wurde, wie ich spüre, dadurch immer bitterer, daß es ihm nicht erlaubt wurde, nach außen zu dringen. Ich gestehe, ich bin besiegt. So dringe, weil es nicht anders sein kann, nach außen, was ich im Herzen leide.“

TRAUERDie Psychologie war zu Bernhards Zeiten als Wissenschaft noch nicht erfunden, aber besser als er kann es auch kein Psychologe ausdrücken. Trauer muss gelebt werden, muss zugelassen werden, muss ausgehalten werden – vom Trauernden und denen, die mit ihm zu tun haben. Wenn sie nicht nach außen dringen darf, wird sie zum Geschwür – im metaphorischen oder wörtlichen Sinn. Wie Trauer gelebt wird, ist dabei sehr individuell. In der Wissenschaft werden vier Phasen der Trauer unterschieden: 1) Leugnen, Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2) Intensive aufbrechende Emotionen, 3) Suchen, Finden, Loslassen, 4) Akzeptanz und Neuanfang. Natürlich ist das nur ein grobes Schema und kann individuell unterschiedlich verlaufen, aber es ist selbst in Bernhards Predigt zu erkennen. Auch er kann zunächst nicht trauern, er tut das, was er als Mönch für seinen Bruder tun kann. „Während die anderen klagten, bin ich, wie ihr bemerken konntet, mit trockenen Augen dem bitteren Leichenzug gefolgt und mit trockenen Augen beim Grab gestanden, bis alle Begräbniszeremonien beendet waren. Bekleidet mit den priesterlichen Gewändern habe ich mit meinem Mund die vorgeschriebenen Gebete für ihn beendet, mit meinen Händen habe ich nach der Sitte Erde über den Leichnam des geliebten Bruders geworfen, der bald selbst Erde sein wird.“ Wo war sein Herz bei alledem? Bernhard funktioniert, die Riten helfen ihm, das Unfassbare irgendwie greifbar zu machen.

Doch dann trifft ihn der Verlust mit voller Wucht. „Bei allem, was mir entgegentritt, blicke ich, wie ich es gewohnt war, auf Gerhard und er ist nicht da.“ Er hat Fragen über Fragen. Wie soll das Leben und das gemeinsame Werk ohne Gerhard weitergehen? Alle diese Fragen gehen über in die Erinnerung, voller Liebe und Dankbarkeit. „Welch umsichtiger Mann, welch getreuer Freund! […] Wer ging von ihm mit leeren Händen weg? Wenn einer reich war, nahm er einen Rat mit sich, wenn einer arm war, erlangte er Hilfe. […] Dank sei dir, mein Bruder, für jede Frucht meiner Bestrebungen im Herrn, sollte ich je eine erlangt haben. […] Warum hätte ich denn im Inneren nicht ruhig sein sollen, da ich doch wußte, daß du draußen wirkst, meine rechte Hand, Licht meiner Augen, mein Herz und meine Zunge?“ Aber im Alltag und im geistlichen Leben des Abtes Bernhard fehlt ihm der Bruder sehr. „Alles, woran ich mein Wohlgefallen und meine Freude hatte, ist zugleich mit dir geschwunden. […] Dich zu überleben, welche Mühe, welcher Schmerz!“ Solche Ausbrüche des übermächtigen Schmerzes wechseln sich ab mit Dankbarkeit, Gerhard gehabt zu haben. Die Phasen der Trauer sind nicht linear und können nicht „abgearbeitet“ werden. Sie kommen in Wellen, die Trauer ist mal größer, mal kleiner. „Brecht hervor, ihr Tränen, brecht hervor, denn schon lange begehrt ihr hervorzubrechen.“ Jedes Gefühl hat seine Berechtigung, auch Lachen ist nicht verboten – ganz im Gegenteil. „Ich fühle, ich bin verwundet, und die Wunde ist tief.“

In der Phase der Akzeptanz und des Neuanfangs ist Bernhard noch nicht angekommen, aber sein Glaube hilft ihm, dankbar zu sein für das Geschenk, das sein Bruder ihm war. „Die Freude des Geliebten mag die Trauer des Verlassenen mäßigen, und der Gedanke, daß er bei Gott ist, soll es uns erträglicher machen, daß er nicht bei uns ist.“ (27. Predigt) Und was bleibt für die Freunde, Kollegen usw. des Trauernden zu tun? „Wer vom Geist erfüllt ist, möge im Geist der Sanftmut dem Klagenden beistehen. Meine Trauer soll bitte mit menschlichem Mitgefühl und nicht mit Erwägungen der Nützlichkeit beantwortet werden.“ Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Trauer muss gelebt und ausgehalten werden, vom Trauernden und von denen, die mit ihm zu tun haben. Nur dann kann der Tod eines Menschen als Teil des Lebens akzeptiert und in das eigene Leben integriert werden. Das Leben geht weiter, ja natürlich, aber ganz anders. Dieses „anders“ will vom Trauernden gefunden werden.

Ich wünsche allen, die den Tod eines geliebten Menschen beklagen, Mut zur Trauer und Menschen an eurer Seite, die eure Trauer mittragen. Möge sich eure Trauer, wie Psalm 30 sagt, in Tanzen verwandeln.

Über das Leben

Seit Wochen schwanken meine Gefühle im Minutentakt hin und her zwischen Hochgefühl und Vorfreude auf der einen Seite und Traurigkeit und Mitgefühl auf der anderen Seite. Heute vermischen sich beide Gefühle zu einem und lassen keinen Gedanken an die Diplomarbeit zu, an der ich eigentlich arbeiten sollte. Aber indem ich hier schreibe, fließt das Thema doch mit ein.

Kann man glücklich-erfüllt und traurig gleichzeitig sein? Man kann. Ich vermute, es liegt nicht nur daran, dass ich ein Freund von Paradoxien geworden bin.

Gestern war ich mit einem engen Freund in der „Zauberflöte“ im Prinzregententheater. Ich war zum ersten Mal in diesem schönen Theater und durfte eine tolle Inszenierung mit schönen Kostümen auf dem allerbesten Sitzplatz bewundern. Und das mit Karten, die ich geschenkt bekam. Obendrauf – und der eigentliche Grund, warum ich unbedingt hin wollte – sang Tareq Nazmi den Sarastro. Er ist mit einer Stimme gesegnet, die mich fasziniert und die eine einzigartige Wirkung auf mich hat: sie verleiht mir einen großen inneren Frieden. „Nebenbei“ ist er, wie ich es gestern erfahren durfte, als ich mir am Bühneneingang ein Autogramm von ihm geben ließ, ein sehr sympathischer Mensch. Ich freue mich jetzt schon, dass er an Heilig Abend wieder bei uns und mit uns in unserer Kirche singen wird.

Nun habe ich gerade erfahren, dass die Mutter meines Freundes heute gestorben ist. Es kam nicht überraschend und doch ist es ein schmerzlicher Moment, trotz allem Vorbereiten und liebevollem Abschiednehmen. Er muss von einem geliebten Menschen Abschied nehmen und das tut auch mir weh. Zu helfen ist schwer. Dasein, Zuhören oder gemeinsam schweigen ist das, was man als Außenstehender tun kann. Das Gefühl, dass es nicht genug ist, bleibt.

Es fällt schwer, in solchen Momenten nicht zu sagen „so ist das Leben halt“. Aber so ist das Leben. Licht und Finsternis wechseln sich ab, Freude und Leid reichen einander die Hand. Die Kunst des Lebens besteht darin, beides ins Leben zu integrieren, einen Sinn darin zu erkennen, in dem, was geschieht. Es mag als Plattitüde klingen, aber ich sehe in solchen Momenten den Sinn darin, dankbar zu sein für das, was man hat, was einem Gutes widerfährt. Ein schöner Herbsttag, liebe Freunde, eine Familie, auf die man zählen kann. Dankbarkeit für die Gaben, die uns geschenkt sind. In meinem Fall bin ich gerade dankbar, dass es mir vegönnt ist, mich ein halbes Jahr mit einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt, intensiv zu beschäftigen. Ein großes Privileg! Ich bin auch dankbar für die Musik und für die Menschen, die viel Zeit, Energie und Herzblut in sie investieren. Angefangen bei unserem engagierten Chorleiter bis zu den Sängern und Musikern gestern.

Hier schließt sich der Kreis. Die Mutter meines Freundes war selbst Musikerin und ihr hätte die „Zauberflöte“ bestimmt gefallen. Wir werden beide diese Oper in Zukunft mit anderen Augen sehen und anderen Ohren hören, aber im Moment kann ich mir kein besseres Andenken an sie vorstellen. Zwei Ereignisse, die gefühlsmäßig kaum weiter auseinander liegen könnten und zeitlich nur wenige Stunden voneinander getrennt sind, werden eine Einheit.

Freundschaft

Ein Thema, das mich in letzter Zeit beschäftigt, habe ich in der Überschrift schon angedeutet. Seit etlichen Jahren bin ich bei facebook (im folgenden fb abgekürzt) und habe es zu schätzen gelernt. Nun ist diese Welt viergeteilt: 1) Menschen, die praktisch in fb leben, 2) Menschen, die bei fb sind und dort auch regelmäßig aktiv, 3) Menschen, die bei fb mehr den Status einer Karteileiche haben und 4) Menschen, die fb kategorisch ablehnen. Letztere werden nicht fertig darüber abzulästern, wie sinnlos soziale Netzwerke wie fb sind. Die Hauptargumente sind meist, dass die Leute, die bei fb sind, unfähig sind reale Freundschaften aufzubauen und sich mal besser auf einen Kaffee treffen sollten anstatt online miteinander zu kommunizieren.

Offensichtlich haben diese Menschen alle ihre Freunde im Umkreis von 500 m, wo man sich schon mal eben auf einen Kaffee treffen kann. Bei mir ist es nicht so. Ich wohne in München, meine Familie lebt etwa 70 km entfernt, meine Freunde z. B. in Berlin, Magdeburg, Oberhausen, Montreal. Klar, da kann man sich doch problemlos treffen und mal schnell die Neuigkeiten austauschen!

Was mich aber noch mehr beschäftigt ist der Begriff „reale“ Freundschaft. Was ist das? Sind die Menschen, die ich ausschließlich über facebook kenne und von denen ich einige durchaus als Freunde bezeichne, weniger real als die Menschen, die ich jede Woche sehe? Nach der Definition, dass fb-Freundschaften (da virtuell) keine realen Freundschaften sind, wäre meine Brieffreundin aus Kanada, die ich seit 27 Jahren kenne, auch keine richtige Freundin. Wir haben uns die ersten 5 Jahre unserer Freundschaft nur Briefe geschrieben – in gewisser Weise auch nur eine virtuelle Freundschaft. Gesehen haben wir uns zweimal. Obwohl sie vielleicht mehr an meinem Leben teilgenommen hat als viele andere Freunde in meinem Leben (schon allein deswegen, weil sie 2/3 meines Lebens begleitet hat), soll unsere Freundschaft weniger real sein?

Die Realität einer Freundschaft ist doch nicht vom Kommunikationsweg abhängig und davon, ob und wie oft man sich sieht. Wie seht ihr das?