Frieden oder Freiheit?
Diese Frage stellte neulich jemand auf Twitter. Wenn ihr euch nur für Frieden oder nur für Freiheit entscheiden müsstet, was würdet ihr wählen? Ich hab darauf geantwortet, dass ich das nicht entscheiden kann, weil beides voneinander abhängt, dass es Frieden ohne Freiheit nicht gibt und Freiheit nicht ohne Frieden. Diese Frage lässt mich nicht mehr los. Ihr dürft mir beim Nachdenken zuschauen bzw. mitlesen …
Ich denke, zuerst muss man bei dieser Diskussion definieren, was man unter Freiheit und Frieden versteht. Beides ist für mich sehr vielschichtig, das sich gar nicht so einfach definieren lässt. Ich versuche es. Dem sei vorausgeschickt, dass mir natürlich klar ist, dass es die absolute Freiheit und den absoluten Frieden auf Erden, in dieser Welt nicht gibt.
Absolut frei ist für mich nur Gott, der sich frei – ohne Restriktionen durch Erziehung, Gesellschaft, Moral oder Instinkte – entscheiden kann. So ist meine Definition von Gottes Allmacht. Frieden in seiner absoluten Form verstehe ich wie den hebräischen Shalom, der mehr meint als die Abwesenheit von Krieg. Das hebräische Wörterbuch, „der Gesenius“, führt viele Definitionen für Shalom auf, eine ist mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben: Ein Zustand, der keine Wünsche mehr offen lässt. Das war immer Gottes Auftrag an die israelitischen Könige, sie sollten für „Recht und Gerechtigkeit“ sorgen. Wie gut das geklappt hat kann man in der Bibel nachlesen (Spoiler: Gott war meistens nicht so richtig begeistert über die Ausführung seines Auftrags). In diesem Sinn halte ich Frieden für eine Utopie, wenn auch als Ziel erstrebenswert.
Wir Menschen sind Begrenzungen unterworfen, von denen wir uns nicht oder nur wenig befreien können. Instinkte, die für unsere Urahnen lebensnotwendig waren, beeinflussen – meist unbewusst – unsere Entscheidungen. Unsere Sozialisation und Erziehung setzen einen Rahmen, in dem wir uns bewegen, ethische und moralische Vorstellungen unserer Gesellschaft prägen unser Denken und Handeln, Gesetze und Verordnungen reglementieren unser Zusammenleben. (Immer öfter hege ich sogar Zweifel, ob der Mensch überhaupt einen wirklich freien Willen hat oder ob das nur eine Idee ist, die wir uns ausgedacht haben, um uns von den Tieren abzuheben. Aber das nur nebenbei, vorerst gehe ich davon aus, dass wir diesen freien Willen haben und folglich in Freiheit leben können.)
Insofern gehe ich von Frieden und Freiheit aus, wie sie uns Menschen mit all unseren Restriktionen möglich sind bzw. möglich sein können.
Für mich ist Freiheit zunächst das Leben ohne äußeren Zwang, dass ich mein Leben gestalten kann, wie ich es möchte, wie es in den Grundrechten festgelegt ist. Als Mensch geachtet zu sein, unabhängig von meiner Herkunft, Weltanschauung, Religion, Bildungsstand, Familienstand etc. Freiheit ist es auch, eine eigene Meinung zu haben und diese äußern zu dürfen. Die finanzielle Unabhängigkeit ist für mich ein Pfeiler, auf dem meine persönliche Freiheit steht. Als Gesellschaft sind wir frei, wenn wir freie Wahlen haben oder mit Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sein dürfen, ohne eine Verhaftung fürchten zu müssen. Wir sind frei, wenn wir offen über unterschiedliche Meinungen diskutieren können. Eine Gesellschaft ist frei, wenn die Mehrheiten die Minderheiten schützen und ihnen den ihnen zustehenden Raum geben. Unbedingter Respekt voreinander ermöglicht Freiheit.
Frieden zwischen Staaten haben wir in Westeuropa seit fast 80 Jahren, einen Frieden, der mehr ist, als die Abwesenheit von Krieg. Völker haben eine jahrhundertelange „Erbfeindschaft“, die unauflöslich schien, beendet und arbeiteten an einem vereinten Europa, das wirtschaftlich weitgehend prosperierte und Freiheit auf vielen Ebenen brachte. Ich halte es für ein großes Privileg, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. Wie fragil so ein Frieden ist, wie sehr darum gekämpft werden muss, erleb(t)en wir immer wieder, in Europa und in der Welt.
Auch der Frieden im Kleinen, in unserem alltäglichen Leben, ist eine Herausforderung. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, die Meinung eines Anderen fordert uns heraus, der Chef verlangt Unmögliches, die Kinder hören nicht zu – wir alle kennen das in der einen oder anderen Form.
Man könnte auch sagen, die Freiheit des anderen stört den Frieden. Seine oder ihre Freiheit trifft auf meine Freiheit, aber die Schnittmenge ist klein. Schon steht der Frieden auf wackeligen Beinen. Idealerweise – und meistens – finden zwei Menschen eine Lösung, die Schnittmenge ihrer Freiheiten zu vergrößern und damit friedvoll miteinander umzugehen. Aber wenn das nicht zustande kommt, ist der Frieden bedroht. Die persönliche Freiheit des Einzelnen birgt immer die Gefahr des Unfriedens, aber gleichzeitig ist sie auch die Möglichkeit zum Frieden, wenn wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten.
Ein Frieden ohne Freiheit ist nur ein Scheinfrieden, der Differenzen negiert und die Menschen unterdrückt. Beispiele in der Weltgeschichte gab und gibt es genug. Irgendwann platzt diese Blase des vermeintlichen Friedens und die Freiheit bricht sich Bahn.
Und Freiheit ohne Frieden, geht das? Sind zum Beispiel die Menschen in der Ukraine, die in „sicheren“ Städten leben, ganz normal ihrer Arbeit nachgehen und ihren Alltag leben, aber trotzdem ständig in Sorge um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen sind, wirklich frei? Ich würde mich wohl nicht frei fühlen, aber vielleicht sehen das die Menschen in der Ukraine anders. Wladimir Klitschko schreibt in einem Beitrag heute „The absolute good is not peace, but freedom and justice, and to defend them you must fight.“* Das absolute Gute ist nicht Frieden, sondern Freiheit und Gerechtigkeit, und um sie zu verteidigen, muss man kämpfen. Und er hat recht, Freiheit ist der Boden, auf dem Frieden gedeihen kann. Ja, Frieden und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sondern unsere höchsten Güter, um die wir uns jeden Tag bemühen müssen, im Kleinen wie im Großen.

