Der unbarmherzige Samariter

Gewidmet Margot Käßmann und allen anderen Friedensbewegten.

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen. Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samaritaner, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt.

„Jetzt liegt er da verletzt,“ dachte er erregt, „selber schuld, warum hat er denn nicht verhandelt? Er hätte doch nur – außer seinem Mantel und seine Schuhe – sein Geld und seinen Proviant hergeben müssen, dann hätten die Räuber bestimmt von ihm abgelassen. Räuber sind ja an sich rationale Menschen, mit denen kann man doch reden. Man muss es nur wollen.“ Während er über die mangelnde Verhandlungsbereitschaft des Mannes nachdachte, fiel dem Samariter das Messer in dessen Gürtel auf. „Ich hab’s doch gewusst!“, rief er. „Wie kann man denn die Räuber derart provozieren! Die Räuber wussten sich bei dieser Bedrohung doch nicht mehr anders zu helfen, als ihn niederzuschlagen. ‚Frieden schaffen ohne Waffen!‘ ist ja mein Lebensmotto. Ist doch ganz einfach: Wenn einer aufhört, Waffen zu haben, machen alle anderen doch sofort mit. So ein Idiot, wie blöd kann man sein.“ Vorsichtig schaute er sich um und dachte: „Die Räuber sind bestimmt noch in der Nähe. Wenn ich dem Mann jetzt helfe – er sieht ja schon ziemlich übel zugerichtet aus – und die Räuber das sehen, lasse ich mich in deren Konflikt reinziehen. Nein, das riskiere ich besser nicht, am Ende kommen die mit dem riesigen Schwert, von dem ich neulich in der Zeitung gelesen habe, und hauen mir den Kopf ab. Mir tut der Mann ja leid, aber ich muss auch an mich denken.“

Zufrieden mit sich selbst und überzeugt, auf der moralisch und strategisch richtigen Seite zu sein, ließ er den Mann liegen, ging in die nächste Herberge und gönnte sich für zwei Denare ein üppiges Essen und reichlich Wein.

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Das Original des Gleichnisses, mit dem Jesus auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“ antwortet, ist bei Lk 10,25-37 zu lesen.

Ist unsere Demokratie in Gefahr?

Am Wochenende war ich wie so oft die letzten zwölf Monate auf eine Demo für die Ukraine. Gegenüber den Demos im März/April letzten Jahres sind die Teilnehmerzahlen an diesen Demos inzwischen sehr überschaubar. Die meisten Teilnehmer sind Ukrainer. Wegen der Sicherheitskonferenz und einiger teilnehmender Prominenz (Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter) waren es diesmal immerhin gut 1000 Menschen, die für die Ukraine und mit den Ukrainern auf dem Odeonsplatz demonstrierten. Zu den Rednern gehörten neben den Genannten auch der ukrainische Botschafter in Deutschland Oleksii Makeiev und der Politologe Carlo Masala. Der übrigens zum ersten Mal auf einer Demo gesprochen hat und angeblich nicht wusste, was er eigentlich sagen soll, aber dann doch viel – sehr Gutes – gesagt hat. 😉 Die Ukrainer haben sich immer wieder für die Hilfe aus Deutschland bedankt und zu weiterer Unterstützung aufgerufen.

Dieser Unterstützung der anwesenden Politiker und Bürger können sich die Ukrainer sicher sein. Auf dem Weg zum Odeonsplatz bin ich aber am Königsplatz vorbeigeradelt und mir wurde schlecht, als ich die russischen Fahnen sah. Hier hatte sich ein Bündnis aus AfD, „Querdenkern“, Verschwörungsgläubigen, Reichsbürgern, Rechtsextremisten , z. B. die Freien Sachsen, und offensichtlich Alt-68er Friedensbewegten zusammengefunden. Zu meinem Entsetzen war der Königsplatz voll, laut Polizei waren es 10 000 Menschen. Die durften dann auch noch durch Schwabing marschieren. Eine andere Demo der DKP und ähnlicher Gruppierungen – u. a. auch unter dem Slogan „Frieden“ – startete am Stachus und führte, man glaubt es kaum, an unserer Demo vorbei. Fast ein halbe Stunde dauerte das, in der unsere Demo massiv gestört wurde.

Dieser Nachmittag lässt mich frustriert und entsetzt zurück. Bislang war ich der Meinung, dass diese – wie soll ich sie nennen – „Pazifisten“, die sie nicht sind, nur eine laute Minderheit ist, aber das gestrige Zahlenverhältnis war für mich erschütternd. Ist dieses seltsame Bündnis aus Rechten, Linken und 68er-Pazifisten wirklich nur laut und spiegelt es nicht die Mehrheit der Bevölkerung wider? Sind diejenigen, die für die Ukraine und auch Waffenlieferungen sind, zu träge oder zu sicher, dass sich das schon irgendwie lösen wird? Ich für meinen Teil kann hier nicht mehr tatenlos zusehen, was ich gestern erlebt habe, macht mir große Sorgen: Sorgen um unsere Gesellschaft, die schon seit der Pandemie – wohl auch schon vorher, aber da wurde es offensichtlich – tief gespalten ist. Sorgen um unsere Demokratie, weil immer mehr Menschen das Vertrauen in den Staat verloren haben oder ihn gar ganz ablehnen. Sorgen machen mir auch die verhärteten Fronten und die Menschen, die nicht mehr für rationale Argumente zugänglich sind, die hinter allem eine Verschwörung sehen und sich mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufrieden geben. Die in einem „starken Mann“, der endlich mal durchgreift und aufräumt, die Lösung ihrer und der Probleme Deutschlands sehen.

Ich kann nur an alle appellieren: Überlassen wir diesen Menschen nicht die Meinungshoheit, zeigt eure Meinung offen und unterstützt die Ukraine so gut es geht. Bis vor einem Jahr war ich in meinem Leben einmal auf einer Demo, das war bisher aus verschiedenen Gründen nicht mein Ding. Aber inzwischen kann ich nicht mehr nur dabei vom Sofa aus zusehen, wie zerstörerische Kräfte unsere Demokratie aushebeln wollen. Ich kann auch nicht tatenlos dabei zusehen, dass Russland die Ukraine vernichten will. Es will auch nicht in meinen Kopf, wie man unter dem Vorwand des Friedens dafür plädieren kann, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern. Wie kann man angesichts der Bilder und Berichte von Vergewaltigung, Ermordung, Deportation und Folter auf diese Idee kommen? „Frieden schaffen ohne Waffen“ habe ich gestern mehrfach im Vorbeifahren gelesen – wie soll das denn in der Ukraine funktionieren? Idealismus und Prinzipien sind ja gut und richtig, aber wenn sie an der Realität scheitern, sind sie wenig wert. Und die Realität ist, dass für die russische Führung und ihre Propaganda die Ukrainer „Untermenschen“ sind, die ausgelöscht oder umerzogen werden müssen. Die Realität ist, dass Russland diesen Krieg nicht eher beenden wird, bis es militärisch geschlagen ist. Die Realität ist auch, dass der Machthunger Russlands über die Ukraine hinausreicht, Moldau ist ja schon besetzt und wird konkret bedroht.

Ich war und bin immer noch Pazifist und würde immer dafür plädieren, zuerst einen Weg über Gespräche zur Konfliktbewältigung zu gehen. Nur im Fall des Krieges Russlands gegen die Ukraine gibt es diesen Weg nicht mehr – lange genug wurde er versucht. Putin will gar nicht verhandeln und wenn, dann nur unter der Bedingung, dass die „territorialen Realitäten“, wie sie es nennen, nicht verhandelbar sind, die Ukraine soll aber ohne Bedingungen in solche Verhandlungen gehen. Das sind doch keine Verhandlungen, sondern die Aufforderung zur Kapitulation der Ukraine. Wenn eine solche Übereinkunft zustande käme, wäre das kein Frieden, sondern eine Friedhofsruhe – im wahrsten Sinne des Wortes. Dann würden weitere Städte dem Schicksal des zerstörten Mariupols folgen.

Was mich auch immer wieder fassungslos macht, ist wie mit einer Selbstverständlichkeit beim Thema Verhandlungen die Ukraine bestenfalls als Objekt betrachtet wird über das verhandelt wird. Es scheint bei manchen Leuten noch nicht angekommen zu sein, dass die Ukraine seit 1991 ein souveräner Staat ist, der souveräne Entscheidungen trifft. Auf der Demo wurde ich von einem Fernsehteam interviewt, wie ich denn Waffenlieferungen an die Ukraine sehe usw. (Mein erstes Fernsehinterview!). Da ich auf der Pro-Ukraine-Demo war, waren die Antworten ziemlich offensichtlich. Ich habe der Interviewerin gesagt, dass sie auch Ukrainer befragen soll, deren Stimme und Stimmung sollte viel mehr zu Wort kommen, weil sie direkt betroffen sind.

Ich habe mich lange aus politischen Diskussionen herausgehalten und es fällt mir immer noch nicht leicht, aber gestern hat mich endgültig wachgerüttelt und ich hoffe, viele schließen sich an. Auch wenn ich keine Idee habe, wie man diese „abgedrifteten“ Menschen wieder ins Boot der Demokratie und des vernünftigen Diskurses holen kann, will ich zumindest in meinem bescheidenen Rahmen durch die Teilnahme an Demos meine Position deutlich machen. Zudem bin ich dabei, meine erschreckenden Wissenslücken – genau genommen ist es ein einziges großes Loch – zu Osteuropa im Allgemeinen und zur Ukraine im Speziellen zu schließen. Das würde, nebenbei bemerkt, manchen Briefe- und Manifestschreibern und Demonstranten, die auf dem Königsplatz waren, auch nicht schaden. Dann würde das verklärte Russlandbild nämlich sehr schnell bröckeln und man würde merken, dass die Ukraine eine lange Geschichte hat und eben sehr viel mehr ist als nur „Kleinrussland“.

Erlaubt mir am Ende dieses zugegeben emotionalen Beitrags noch ein paar Empfehlungen, wie ihr die Ukraine unterstützen könnt und einige Empfehlungen, wenn ihr mehr über die Geschichte der Ukraine wissen wollt (es lohnt sich!).

Geschichte der Ukraine:

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder, ISBN 978-3-406-71410-8 (kurz und knackig)

Serhii Plokhy, Das Tor Europas, ISBN 978-3455015263 (ausführlich, aktuellstes Werk)

Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3150143261

Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, ISBN 978-3406735585

13-teilige Vorlesung von Timothy Snyder (Professor in Yale, renommierter Osteuropa-Historiker): The Making of modern Ukraine

Unterstützung für die Ukraine (eine kleine Auswahl):

Caritas: https://www.caritas-international.de/spenden/online/formular?id=A0230M005

Ukrainisch-katholische Gemeinde/Exarchie: http://www.ukr-kirche.de/seite/570811/hilfe-f%C3%BCr-die-kriegsopfer-in-der-ukraine.html

Verein München hilft Ukraine: https://www.muenchen-hilft-ukraine.de/spenden

SOS-Kinderdörfer: https://www.sos-kinderdorf.de/portal/spenden/wo-wir-helfen/europa/ukraine

Über DHL kann man kostenlos Pakete in die Ukraine schicken, die ukrainische Post verteilt den Inhalt dahin, wo es gebraucht wird: https://www.dhl.de/de/privatkunden/information/hilfe-ukraine.html

Initiative von Timothy Snyder: https://u24.gov.ua/shahedhunter (oder auch andere Projekte, auch humanitäre, auf der Seite des ukrainischen Präsidenten: https://u24.gov.ua/)

Auf Empfehlung von Aleksander Pavkovic: Blindenschule in Charkiw


Die Unordnung der Welt und was ich tun kann

Unsere Welt scheint aus den Fugen zu geraten: Es ist Krieg in Europa, im Iran eskalieren die Proteste gegen das Regime, es gibt Hungersnöte in vielen Ländern Afrikas, politische Kräfte agitieren, die die Gesellschaften spalten und destabilisieren, der Klimawandel, durch den unsere Lebensgrundlage zerstört wird, ist kaum aufzuhalten und so viel mehr. Mir macht das Angst, auch deswegen, weil ich mir ziemlich hilf- und machtlos vorkomme und ich mich allem ausgeliefert fühle. Das was ich tue, scheint mir nur ein winziger Tropfen im großen Meer zu sein, der nichts bewirkt.

Seit Anfang März halten wir jeden Sonntag ein Friedensgebet, etwa 20 bis 30 Menschen nehmen daran teil, viele von ihnen sind treue Stammgäste. Wir beten um Frieden in der Ukraine und in der Welt. Wir glauben fest daran, dass unser Gebet etwas bewirken kann, wir sind schließlich nicht die einzigen. In Erfurt gibt es seit über 30 Jahren ein Friedensgebet, das mit den Demonstrationen in der DDR 1989 begonnen wurde! Es mag für den Einzelnen nicht viel sein, aber zusammen entsteht aus dem Gebet viel Kraft.

Zudem gehe ich seit Beginn des Krieges in der Ukraine immer wieder demonstrieren, etwas,  das ich in meinem bisherigen Leben nur einmal getan habe. Es fiel mir bisher immer schwer, mich politischen Demonstrationen anzuschließen, warum genau, kann ich nicht richtig sagen. Aber das hat sich mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine geändert. Er hat mich politisiert wie nichts zuvor. Es ist mir wichtig, das bisschen, was ich tun kann für die Ukrainer, nämlich meine Stimme zu erheben und mich mit ihnen zu solidarisieren, auch zu tun. Ich bin jedes Mal wieder beeindruckt von den ukrainischen Menschen, vor allem von den jungen. Sie lieben ihr Land, kämpfen dafür und sind dankbar für jede Hilfe.

Heute habe ich gelernt, wie man den Menschen im Iran und anderen Ländern, in denen das Internet zensiert ist, helfen kann. Mit dem Add-on „Snowflake“ für Firefox und Chrome bzw. der Internetseite https://snowflake.torproject.org/ kann man einen Proxy bereitstellen, mit dem die Menschen die Zensur umgehen können. Eine Handvoll Klicks für mich, für einen Menschen im Iran die Möglichkeit, der Welt mitzuteilen, was dort geschieht.

Ja, das sind meine kleinen Schritte, so winzig und unbedeutend sie mir auch vorkommen mögen, hoffe ich doch, dass sie etwas bewirken. Aber die Sorge um die Zukunft in unserem Land, in Europa und der Welt bleibt trotzdem. Das Gefühl zu wenig zu tun auch. Was kann ich tun, um die berechtigten Sorgen der armen Menschen in Deutschland vor diesem Winter und der Energiekrise zu lindern? Wie wird der Krieg in der Ukraine weitergehen? Und die Bilder von den hungernden Menschen in Somalia und anderen Ländern kann mich doch auch nicht kalt lassen?

Ich denke, es ist an der Zeit, die eigene Komfortzone zu verlassen. Wie das genau aussieht, weiß ich noch nicht, aber ich spüre, dass mich etwas antreibt. Vielleicht ist es auch die Abenteuerlust, die in mir wieder erwacht ist, aber auch das Bedürfnis (und die Selbstverständlichkeit) mich ehrenamtlich zu engagieren, was seit meinem Rückzug aus der Kirche darniederliegt. Mal sehen, wo es mich hintreibt.

Frieden oder Freiheit?

Diese Frage stellte neulich jemand auf Twitter. Wenn ihr euch nur für Frieden oder nur für Freiheit entscheiden müsstet, was würdet ihr wählen? Ich hab darauf geantwortet, dass ich das nicht entscheiden kann, weil beides voneinander abhängt, dass es Frieden ohne Freiheit nicht gibt und Freiheit nicht ohne Frieden. Diese Frage lässt mich nicht mehr los. Ihr dürft mir beim Nachdenken zuschauen bzw. mitlesen …

Ich denke, zuerst muss man bei dieser Diskussion definieren, was man unter Freiheit und Frieden versteht. Beides ist für mich sehr vielschichtig, das sich gar nicht so einfach definieren lässt. Ich versuche es. Dem sei vorausgeschickt, dass mir natürlich klar ist, dass es die absolute Freiheit und den absoluten Frieden auf Erden, in dieser Welt nicht gibt.

Absolut frei ist für mich nur Gott, der sich frei – ohne Restriktionen durch Erziehung, Gesellschaft, Moral oder Instinkte – entscheiden kann. So ist meine Definition von Gottes Allmacht. Frieden in seiner absoluten Form verstehe ich wie den hebräischen Shalom, der mehr meint als die Abwesenheit von Krieg. Das hebräische Wörterbuch, „der Gesenius“, führt viele Definitionen für Shalom auf, eine ist mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben: Ein Zustand, der keine Wünsche mehr offen lässt. Das war immer Gottes Auftrag an die israelitischen Könige, sie sollten für „Recht und Gerechtigkeit“ sorgen. Wie gut das geklappt hat kann man in der Bibel nachlesen (Spoiler: Gott war meistens nicht so richtig begeistert über die Ausführung seines Auftrags). In diesem Sinn halte ich Frieden für eine Utopie, wenn auch als Ziel erstrebenswert.

Wir Menschen sind Begrenzungen unterworfen, von denen wir uns nicht oder nur wenig befreien können. Instinkte, die für unsere Urahnen lebensnotwendig waren, beeinflussen – meist unbewusst – unsere Entscheidungen. Unsere Sozialisation und Erziehung setzen einen Rahmen, in dem wir uns bewegen, ethische und moralische Vorstellungen unserer Gesellschaft prägen unser Denken und Handeln, Gesetze und Verordnungen reglementieren unser Zusammenleben. (Immer öfter hege ich sogar Zweifel, ob der Mensch überhaupt einen wirklich freien Willen hat oder ob das nur eine Idee ist, die wir uns ausgedacht haben, um uns von den Tieren abzuheben. Aber das nur nebenbei, vorerst gehe ich davon aus, dass wir diesen freien Willen haben und folglich in Freiheit leben können.)

Insofern gehe ich von Frieden und Freiheit aus, wie sie uns Menschen mit all unseren Restriktionen möglich sind bzw. möglich sein können.

Für mich ist Freiheit zunächst das Leben ohne äußeren Zwang, dass ich mein Leben gestalten kann, wie ich es möchte, wie es in den Grundrechten festgelegt ist. Als Mensch geachtet zu sein, unabhängig von meiner Herkunft, Weltanschauung, Religion, Bildungsstand, Familienstand etc. Freiheit ist es auch, eine eigene Meinung zu haben und diese äußern zu dürfen. Die finanzielle Unabhängigkeit ist für mich ein Pfeiler, auf dem meine persönliche Freiheit steht. Als Gesellschaft sind wir frei, wenn wir freie Wahlen haben oder mit Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sein dürfen, ohne eine Verhaftung fürchten zu müssen. Wir sind frei, wenn wir offen über unterschiedliche Meinungen diskutieren können. Eine Gesellschaft ist frei, wenn die Mehrheiten die Minderheiten schützen und ihnen den ihnen zustehenden Raum geben. Unbedingter Respekt voreinander ermöglicht Freiheit.

Frieden zwischen Staaten haben wir in Westeuropa seit fast 80 Jahren, einen Frieden, der mehr ist, als die Abwesenheit von Krieg. Völker haben eine jahrhundertelange „Erbfeindschaft“, die unauflöslich schien, beendet und arbeiteten an einem vereinten Europa, das wirtschaftlich weitgehend prosperierte und Freiheit auf vielen Ebenen brachte. Ich halte es für ein großes Privileg, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. Wie fragil so ein Frieden ist, wie sehr darum gekämpft werden muss, erleb(t)en wir immer wieder, in Europa und in der Welt.

Auch der Frieden im Kleinen, in unserem alltäglichen Leben, ist eine Herausforderung. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, die Meinung eines Anderen fordert uns heraus, der Chef verlangt Unmögliches, die Kinder hören nicht zu – wir alle kennen das in der einen oder anderen Form.

Man könnte auch sagen, die Freiheit des anderen stört den Frieden. Seine oder ihre Freiheit trifft auf meine Freiheit, aber die Schnittmenge ist klein. Schon steht der Frieden auf wackeligen Beinen. Idealerweise – und meistens – finden zwei Menschen eine Lösung, die Schnittmenge ihrer Freiheiten zu vergrößern und damit friedvoll miteinander umzugehen. Aber wenn das nicht zustande kommt, ist der Frieden bedroht. Die persönliche Freiheit des Einzelnen birgt immer die Gefahr des Unfriedens, aber gleichzeitig ist sie auch die Möglichkeit zum Frieden, wenn wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten.

Ein Frieden ohne Freiheit ist nur ein Scheinfrieden, der Differenzen negiert und die Menschen unterdrückt. Beispiele in der Weltgeschichte gab und gibt es genug. Irgendwann platzt diese Blase des vermeintlichen Friedens und die Freiheit bricht sich Bahn.

Und Freiheit ohne Frieden, geht das? Sind zum Beispiel die Menschen in der Ukraine, die in „sicheren“ Städten leben, ganz normal ihrer Arbeit nachgehen und ihren Alltag leben, aber trotzdem ständig in Sorge um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen sind, wirklich frei? Ich würde mich wohl nicht frei fühlen, aber vielleicht sehen das die Menschen in der Ukraine anders. Wladimir Klitschko schreibt in einem Beitrag heute „The absolute good is not peace, but freedom and justice, and to defend them you must fight.“* Das absolute Gute ist nicht Frieden, sondern Freiheit und Gerechtigkeit, und um sie zu verteidigen, muss man kämpfen. Und er hat recht, Freiheit ist der Boden, auf dem Frieden gedeihen kann. Ja, Frieden und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sondern unsere höchsten Güter, um die wir uns jeden Tag bemühen müssen, im Kleinen wie im Großen.

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